Medienberater: „Am Esstisch sollten Handys für Kinder tabu sein“
Interview Welche Gefahren lauern bei der Nutzung von sozialen Medien und Co.? Wie können Eltern ihre Kinder davor schützen? Clemens Beisel berät Eltern im Rems-Murr-Kreis und darüber hinaus, wie sie ihren Kindern eine gesunde Mediennutzung beibringen können.
Herr Beisel, wann haben Sie zuletzt auf Ihr Handy geschaut und gelächelt?
Schätzungsweise heute Morgen irgendwann. Ich wüsste jetzt nicht genau welche Situation, aber es ist schon so, dass ich mich morgens zum Beispiel freue, Basketballergebnisse aus der NBA anschauen zu können. So ein bisschen Freude habe ich schon, wenn ich aufs Handy schaue.
Wieso schauen wir so oft auf unser Handy?
Wir werden auf diese Geräte konditioniert, indem wir immer wieder solch kleine Grinsemomente am Handy haben. Und wenn die Mundwinkel nach oben gehen, dann werden Glückshormone ausgeschüttet. Und weil wir bei jeder Vibration oder bei jedem Klingeln irgendwann die Hoffnung haben, es könnte wieder so ein kleiner Grinsemoment sein, haben wir den Drang, wieder ranzugehen. Wenn dieser Lernprozess stattgefunden hat, muss das Handy gar nicht mehr vibrieren oder klingeln, weil ich habe ja gelernt, dass ich zum Beispiel morgens meine Basketballergebnisse anschauen kann. Und bei Kindern und bei Jugendlichen ist es so: Ich muss ja gar nicht warten, bis mein Handy vibriert. Ich finde auch so etwas Lustiges auf Tiktok. Im Deutschen nennt man das den Casinoeffekt, weil das an eine Form von Glücksspiel erinnert.
Warum kann das problematisch sein?
Es geht zum einen um das Ablenkungspotenzial. Ein Kind sollte verstehen, dass es wichtig ist, sich mal 20 Minuten ohne Handy konzentrieren zu können. Ich glaube nicht, dass wir es im Bildungswesen und in der Familie schaffen, dem Kind alle paar Sekunden so einen kleinen Glücksmoment zu bereiten. Aber unser Gehirn gewöhnt sich daran, wie Tiktok-Videos, Instagram-Reels oder Youtube-Shorts aufgebaut sind. Das führt dazu, dass die Aufmerksamkeitsspanne rapide sinkt.
Können Sie erklären, was ein Short oder ein Reel ist?
Angefangen hat das mit dem sozialen Netzwerk Tiktok, das immer kürzere Videos wie am Fließband den Nutzerinnen und Nutzern präsentiert hat. Ich schaue mir ein Video an, das geht 20 Sekunden und direkt danach kommt das nächste Video. Instagram und Youtube haben gemerkt, dass man damit die Kundinnen und Kunden, also auch die Kinder, in den Bann ziehen kann. Deswegen findet man die gleichen kurzen Videos von Tiktok jetzt auch bei Instagram oder Youtube.
Abgesehen von der sinkenden Aufmerksamkeitsspanne, was kann noch problematisch werden?
Wenn wir auf die Inhalte schauen: Ich glaube, es gibt kaum Eltern, die wissen, was ihre Kinder da so genau machen. Und da ist sehr viel Jugendgefährdendes dabei. Da gibt es ganz schreckliche Dinge wie irgendwelche Challenges, die Kinder dazu zwingen, schlimme Dinge zu tun oder sich selbst zu verletzen. Es fängt auch schon damit an, wenn mein Kind Schönheitsfilter verwendet und danach glaubt, nicht schön genug zu sein. Wenn mein Kind so latent pornografisches oder rassistisches Material sieht und sich dadurch vielleicht ein anderes Weltbild im Kopf meines Kindes formt.
Inwieweit stellt dabei auch der Algorithmus ein Risiko dar?
Das ist eine große Gefahr. Wenn ein soziales Netzwerk merkt, mit bestimmten Videos halte ich die Person auf der Plattform, dann wird sie mit Videos aus dieser Kategorie zugeschüttet. Selbst wenn es harmlose Inhalte sind, verführen sie einen dazu, unendlich viel Zeit in dem Netzwerk zu verbringen. Warum? Weil das Unternehmen mit unserer Zeit Geld verdient. Wir reden darüber, dass Chat-GPT nicht cool ist, weil jetzt Schülerinnen und Schüler ihre Lehrkräfte hinters Licht führen können, indem sie gefälschte Hausarbeiten abliefern. Aber was ist mit der künstlichen Intelligenz, die hinter solchen Algorithmen steht? Mit denen Erwachsene schon seit Jahren Kinder und Jugendliche missbrauchen, indem sie sie süchtig machen? Da würde ich mir einen größeren öffentlichen Diskurs wünschen.
Trotz der vielen Gefahren empfehlen Sie nicht, dass Eltern ihrem Kind die sozialen Netzwerke verbieten.
Ich würde schon sagen, dass man Tiktok Kindern verbieten sollte, wenn sie in der Grundschule und auch wenn sie in der 5., 6. Klasse sind. Aber ich bin dafür, dass man Kindern auch zeigen kann, was man Schönes auf Instagram machen kann. Dass es auch auf Youtube gute Lernvideos gibt. Und das es okay ist, mal eine Stunde auf Youtube mit ein paar Videos zu verdaddeln. Mir geht es um ein gesundes Maß.
Halten Sie es für eine elterliche Pflicht, sich damit auseinanderzusetzen: Was ist ein Reel? Was passiert auf Tiktok?
Ja. Eltern sollten sich sehr intensiv mit den Mechanismen und auch mit dem Thema auseinandersetzen, auch wenn es uns nicht in die Wiege gelegt wurde. Ich finde es unglaublich wichtig, dass Eltern ihre Kinder begleiten, wenn es um die Mediennutzung geht – und zwar je jünger sie sind, desto engmaschiger. Das ist schwer, das weiß ich. Viele Familien haben einfach sehr viel zu tun. Dann ist mein Kind halt, wenn es ein Handy hat, ein Stück weit versorgt. Das ist ein Impuls, den ich erst mal gar nicht bewerten möchte.
Was sollte da gesellschaftlich verbessert werden?
Wir brauchen einen politisch gewollten Jugendschutz, auch in sozialen Medien. Das ist schwierig, weil das sind internationale Unternehmen, die sich nicht gerne von irgendjemandem reinreden lassen. Beispielsweise wenn es um Schönheitsfilter geht, das ist eine abstrakte Gefahr: Viele Kinder benutzen die Schönheitsfilter, ohne sich davon negativ beeinflussen zu lassen, aber manche werden dadurch depressiv, traurig und haben den Wunsch, ihren Körper zu verändern. Wo ziehen wir also die Linie? Wo muss der Jugendschutz ansetzen? Und wir brauchen definitiv so etwas wie ein Schulfach Medienkompetenz. Dafür brauchen wir gut ausgebildete Fachkräfte. Und wir brauchen mehr Bildung für Eltern.
Können Sie ein paar Regeln für eine gesunde Handynutzung nennen?
Das ist immer zu definieren nach Alter und auch nach Entwicklungsstand des Kindes. Das muss jede Familie für sich selber beurteilen. Ich bin aber schon dafür, dass Eltern darauf achten, dass ihre Kinder gut schlafen und dass das Handy nachts irgendwann Feierabend hat. Je jünger, desto früher.
Also das Handy wegnehmen?
Dass man die Regel hat, abends muss das Handy zum Beispiel in der Küche sein. Es gibt aber auch technische Tools, dass das Handy ab 20 Uhr gesperrt ist und das Kind nichts mehr am Handy machen kann. Dann finde ich es zudem wichtig, dass wir selber mit gutem Beispiel vorangehen. Wenn wir zum Beispiel mit unserem Kind reden, sollte nicht das Handy die erste Geige spielen, sondern die Person, die vor mir steht. Wenn wir zusammen am Esstisch sitzen, sollten die Handys tabu sein. Man könnte sich eine Schale im Flur einrichten oder ein Handybett und, wenn Hausaufgaben gemacht werden, liegt das Handy dort.
Das Gespräch führte Anja La Roche.
Zur Person Clemens Beisel ist gelernter Sozialpädagoge und Sozialmanager. Seit 2013 gibt er Workshops und hält Vorträge zum Spannungsfeld Smartphones, soziale Netzwerke und junge Menschen. Seit 2020 bietet er das Online-Format „Digitaler Elternabend“ an. Mehr Infos gibt es auf der Website www.clemenshilft.de.
Digitaler Elternabend In den Videoeinheiten erfahren Eltern, wie sie die Mediennutzung ihrer Kinder gesund begleiten können. Eltern, Fachkräfte und Einrichtungen im Kreis erhalten einen kostenlosen Zugang, indem sie sich an den kommunalen Suchtbeauftragten unter ha.mueller@rems-murr-kreis.de wenden.
Weitere Angebote Des Weiteren können sich Angehörige oder von Mediensucht betroffene Personen an die Drogenhilfe Horizont wenden. Mehr Informationen dazu gibt es unter www.drogenhilfe-horizont.de. Das Kreismedienzentrum vermittelt zu dem Thema außerdem Referenten für Schulen und Einrichtungen.