Am Limit der Kräfte angekommen

Bei der Kreistagssitzung im Waiblinger Bürgerzentrum tragen die Fraktionen und Gruppen des Gremiums ihre Einschätzungen zum Haushalt 2022 vor. Die Situation der Kreiskliniken wird dabei ebenso erörtert wie der Öffentliche Personennahverkehr und die Klimawende. Die Grünen verblüffen mit einem Hinweis zu Mobilität und Abfallentsorgung.

Auch die Situation der Rems-Murr-Kliniken – hier in Winnenden – war im Kreistag Gegenstand der Haushaltsreden. Foto: Rems-Murr-Kliniken

Auch die Situation der Rems-Murr-Kliniken – hier in Winnenden – war im Kreistag Gegenstand der Haushaltsreden. Foto: Rems-Murr-Kliniken

Von Bernhard Romanowski

und Florian Muhl

Rems-Murr. Einmal im Jahr wird im Rems-Murr-Kreistag das ganz große Rad gedreht. Dann werden von den Fraktionen immer gerne die Bundes- und auch die Weltpolitik bemüht, um ihren Reden zum Kreishaushalt für das kommende Jahr noch mehr Gewicht zu verleihen. Die Wortbeiträge gestern in Waiblingen, wo die Mitglieder des Kreistags im Bürgerzentrum tagten, waren nicht thematisch, wohl aber wieder in der Redezeit begrenzt: 15 Minuten pro Fraktion, sieben Minuten pro Gruppe. Den Etat als solchen hatten Landrat Richard Sigel und der Finanzdezernent des Kreises, Peter Schäfer, den Kreisräten und der Öffentlichkeit bereits in der vorigen Sitzung vorgestellt (wir berichteten). Nun ging es darum, wie die Fraktionen das Zahlenwerk bewerten und welche Anträge sie mit Blick auf 2022 stellen.

„Keine Frage – die Coronapandemie hat unsere Welt verändert, ja für manche wurde sie auf den Kopf gestellt“, stieg Ulrich Lenk von der Fraktion FDP/Freie Wähler in die Haushaltsdebatte ein. Offenkundig sei man mit dem Thema Covid noch nicht durch. Doch seien während der Coronakrise im Rems-Murr-Kreis beispielhafte Lösungen erarbeitet worden, die landesweite Anerkennung gefunden hätten, so Lenks Lob nicht zuletzt für die Arbeit von Landrat Sigel und seinem Verwaltungsteam. Man sei quasi mit einem blauen Auge durch die Krise gekommen. Allerdings erwartet seine Fraktion weitere Hilfsprogramme, um die Kliniken des Kreises krisen- und zukunftsfest zu machen, so Lenk. Maximilian Friedrich formulierte es als Fraktionschef der Freien Wähler sogar so, dass man im Rems-Murr-Kreis „bislang erstaunlich gut“ durch die Coronapandemie gekommen sei. „Ein Überschuss von mehr als 21 Millionen Euro im Haushaltsjahr 2020 sowie Ergebnisverbesserungen von voraussichtlich mindestens 2,4 Millionen Euro im aktuellen Jahr 2021 geben uns Rückenwind“, so Friedrich. Zudem liege die Steigerung der Pro-Kopf-Steuereinnahmen acht Prozent über dem sonstigen Niveau im Raum Stuttgart. Die drastisch gestiegenen Kosten im Sozialbereich bereiten den Freien Wählern indessen Sorgen. Sie sprechen sich für eine Erhöhung des Ansatzes bei den Einnahmen der Grunderwerbsteuer aus, um das zu kompensieren. Einen Zwischenapplaus erntete Friedrich für seinen Dank an die Landkreisverwaltung, die „gemeinsam mit den Städten und Gemeinden sowie mit unseren Kliniken im Führungsstab um Dr. Peter Zaar und Stefan Hein beziehungsweise im Gesundheitsamt einen phänomenalen Einsatz leisten.“

Die Kliniken des Kreises sehen die Freien Wähler allerdings von Bund und Land „im Regen stehen gelassen“. Friedrich: „Unsere Beschäftigten erleben gerade eine vierte Welle, in der erneut vor allem ungeimpfte Personen schwer erkrankten und auf den Intensivstationen behandelt werden müssen.“ Man stehe kurz vor der Alarmstufe, das Personal sei vielfach am Limit der Kräfte angekommen. Für die Städte und Kommunen im Kreis sieht Friedrich – nicht zuletzt als Oberbürgermeister der Stadt Backnang – ein haushaltstechnisch düsteres Jahr kommen. Der derzeit vorgesehenen Kreisumlage in Höhe von 31,0 Prozent können die Freien Wähler demnach gerade noch zustimmen. Eine gehörige Portion Optimismus und Zeitgeist hatte Friedrich auch noch parat und zitierte dazu „The Länd“, also die neue – und sehr kontrovers diskutierte – Image-Kampagne des Landes Baden-Württemberg: „Wir können alles neu erfinden – auch uns selbst“.

Die CDU-Fraktion wähnt den Rems-Murr-Kreis indessen wieder „auf hoher, rauer See“, nachdem bei der Haushaltseinbringung noch „Land in Sicht“ gewesen sei, wie es Landrat Sigel ausgedrückt hatte. Armin Mößner blieb als CDU-Fraktionschef noch eine Weile in der Seemannssprache: „Es muss nun gelten, das Schiff zu sichern, unsere Kräfte zu bündeln und neu Kurs zu setzen, um wieder Land in Sicht zu sehen und hoffentlich irgendwann den sicheren Hafen zu erreichen.“ Dann wurde Mößner konkreter. Nach der Schließung des Kreisimpfzentrums sollten nun mobile Impfteams als ergänzende Angebote im Kreisgebiet kursieren, so die Meinung der Christdemokraten. „Wäre angesichts der aktuellen Lage nicht auch eine Impfpflicht – notfalls nur für bestimmte Berufsgruppen – angezeigt?“, fragte Mößner in die Runde.

Die Transformation der Automobilindustrie treibt zur Zeit seine Fraktion um, die auch einen Antrag dazu formuliert hat. Die Kreiswirtschaftsförderung möge ein Konzept erarbeiten, wie neue und vor allem Zukunftsbranchen insbesondere im Bereich Digitalisierung in den Kreis geholt werden können, so das Anliegen. Mößner: „Es muss darum gehen, neue Arbeitsplätze in unserem wirtschaftsstarken Kreis zu schaffen. „Dass der Kreis bislang gut durch die Pandemie gesteuert wurde, bestätigte Mößner im Übrigen ebenfalls. Für Astrid Fleischer von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen stand gestern erst einmal der Kampf mit dem Mikrofon auf dem Programm. Die ersten Passagen ihrer Rede, in denen es um den Klimaschutz und die Bewahrung der biologischen Vielfalt im Kreis ging, fanden deshalb kaum Anklang. Das technische Problem wurde mit zwei Handgriffen gelöst und Fleischer konnte auf die 66 im Schelmenholtz in Winnenden geplanten Wohnungen für Mitarbeitende der dortigen Kreisklinik zu sprechen kommen.

Das nämlich sei „ein guter Invest für die Sicherung unseres Gesundheitsstandortes.“ Die volle Aufmerksamkeit des Gremiums erlangte Fleischer aber mit einer Anmerkung zum Thema Abfallwirtschaft, die auch zum Thema Mobilitätswende passt und jedenfalls für ein Aufhorchen und lautes Raunen im Sitzungssaal sorgte: „Es ist absolut nicht abwegig, dass zukünftig auch mal mit dem Fahrrad oder Lastenrad zur Deponie gefahren wird, um dort Abfall abzugeben.“ Die Reaktionen auf diese Aussage schwankten zwischen Verwunderung, Augenrollen und offenkundiger Heiterkeit. Doch Fleischer setzte gelassen noch nach: „Ja, da lachen einige. Aber in Stuttgart sieht man, dass so ziemlich alles mit dem Lastenrad transportiert wird.“

Klaus Riedel von der SPD-Fraktion lagen gestern zwei Themen besonders am Herzen: „Wir brauchen dringend die beiden Klausuren zu den Themen Mobilitätswende und Klimaschutzkonzept. Auch wartet die Fortschreibung des Wohnbaugipfels auf eine Fortsetzung.“ Soziale Themen wie die Kinderarmut müssten ebenfalls aufgearbeitet werden, so die Auffassung der Genossen. Zuvor hatte Riedel weltpolitisch ausgeholt und den Zusammenhang zwischen Pandemie, Klimakrise und Fluchtbewegungen aus seiner Sichtweise auf einen Nenner gebracht: „Die Globalisierung von wirtschaftlicher Produktion und weltweitem Handel im Verbund mit Freihandelszonen“ sieht er hier wirken. Er ließ allerdings angesichts der beschränkten Redezeit offen, inwieweit dies im Rems-Murr-Kreis Folgen zeitigt und wie dem hier zu begegnen sei. Mit einem Appell beendete der Sozialdemokrat seine Rede. Es sei wichtig, weiterhin „eine offene und lebendige Gesellschaft“ im Rems-Murr-Kreis zu gestalten und sich allen fremdenfeindlichen Parolen und Handlungen entgegenzustellen. Riedel: „Hier sollen Menschen, gleich welcher ethnischer, religiöser und kultureller Herkunft eine neue Heimat finden können und dürfen.“

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Erstellt:
16. November 2021, 11:30 Uhr

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