An der Backnanger Tafel stehen sie Schlange

Alles wird teurer (10) Die Inflation bewirkt, dass bei vielen Menschen das Geld knapp wird. In der Backnanger Tafel steigt die Zahl der Einkaufsberechtigten stark an, zugleich bleiben in den Supermärkten weniger Waren übrig.

Auch wenn aktuell viel zu tun ist, hat Sunay Ceyhan für ihre Kunden ein Lächeln übrig. Fotos: Alexander Becher

© Alexander Becher

Auch wenn aktuell viel zu tun ist, hat Sunay Ceyhan für ihre Kunden ein Lächeln übrig. Fotos: Alexander Becher

Von Lorena Greppo

Backnang. Sunay Ceyhan ist gefragt. Sie steht an der Theke der Backnanger Tafel, wo sie seit mehr als 20 Jahren mit arbeitet, und hat keine ruhige Minute. Wenn nicht gerade Kunden ihre Bestellung aufgeben und ihren Einkauf bezahlen möchten, wird sie auch als Dolmetscherin gebraucht. Neben Deutsch spricht sie Türkisch und lernt – bedingt durch die steigende Zahl an ukrainischen Geflüchteten – auch etwas Russisch. „Es ist stressig“, sagt sie, lässt sich aber gleichzeitig nicht aus der Ruhe bringen. Freundlich und geduldig fragt Sunay Ceyhan die Kundschaft nach dem Berechtigungsausweis, packt Obst, Gemüse, Molkereiprodukte und Ähnliches in den Korb und kassiert am Ende ab. „Es wird viel diskutiert“, erklärt sie nebenbei. „Manche sind nicht einverstanden damit, wenn sie zum Beispiel nur ein Päckchen Butter für den ganzen Haushalt bekommen“, berichtet Ceyhan. Jedoch gibt es nicht alle Waren im Überfluss, an manchen Stellen muss rationiert werden.

Das Aufkommen in der Tafel ist im vergangenen Jahr stark gestiegen. „Am Wochenende sind wir zu dritt hinter der Theke und kommen kaum hinterher“, sagt Ceyhan. Diesen Eindruck bestätigt auch Daniela Kramm, Leiterin der Backnanger Tafel. „Am Freitag standen erstmals Menschen bis zur Straße Schlange vor unserer Tür. Das habe ich zuvor noch nie erlebt“, schildert sie. Zwischen 300 und 500 Menschen werden über die Tafel versorgt. Das seien etwa doppelt so viele wie noch in Anfangszeiten der Coronapandemie, sagt Kramm.

Immer mehr Rentner kommen in die Tafel

Ja, die Zahl der Geflüchteten in der Kundschaft ist gestiegen, doch den stärksten Anstieg verzeichnet Kramm bei Menschen, die ein Einkommen haben. Immer mehr Rentner oder Arbeitnehmer im Mindestlohnsektor werden zu Tafelkunden. Durch die steigenden Preise fallen viele in den Wohngeldbezug oder bekommen anderweitige Leistungen, wofür sie sich für einen Berechtigungsausweis qualifizieren. „Man sieht einige Kunden in Arbeitsuniform reinkommen. Als ich vor sechs Jahren hier angefangen habe, gab es noch kaum Arbeitnehmer hier“, erinnert sich Kramm. Früher habe sie etwa ein bis zwei Anfragen pro Woche bekommen, nun sind es mehrere am Tag. Jüngst sei ein älteres Ehepaar weinend vor ihr gestanden, den Rentenbescheid in der Hand. Dass sie einmal zur Kundschaft der Tafel gehören würden, hätten sie nicht gedacht.

Man richtet sich dauerhaft auf den Ansturm ein

„Die Tafelkundschaft kommt immer mehr in der Mitte der Gesellschaft an“, sagt auch Heinz Franke, Vorsitzender des Trägerverbands Kinder- und Jugendhilfe. Das nehme der Institution zwar das „prekäre Geschmäckle“, wie er es ausdrückt, zugleich sei klar: „Normalität darf die Tafelarbeit nicht sein.“ Weil aber die Inflation nicht vom einen Tag auf den nächsten verschwindet, richtet sich Daniela Kramm dauerhaft auf einen derartigen Ansturm auf die Einrichtung ein. Das Ziel bleibe gleich: Alle zu versorgen und das so gerecht wie möglich. „Eine unserer Hauptaufgaben ist es zurzeit, die Leute zu beruhigen, die hinten in der Schlange anstehen und ihnen klarzumachen: Es bekommen alle etwas.“ Manche Lebensmittel müssten daher rationiert werden – ebenfalls eine neue Entwicklung.

An diesem Tag ist die Schlange überschaubar, erst in der Mittagspause steigt das Aufkommen. Viele Kunden kommen zu diesem Zeitpunkt aus einem Deutschkurs nebenan. Immer wieder bringen die Mitarbeiter und Ehrenamtlichen Nachschub aus dem angrenzenden Raum, der der Vorbereitung der Lebensmittel dient. Hier sind fünf Personen damit beschäftigt, die Ware zu prüfen, sodass auch nur genießbares Obst und Gemüse über die Theke wandert. Da werden die äußeren, welken Blätter der Salatköpfe entfernt und aus Mandarinenkisten faule Exemplare aussortiert. „Heute müsst ihr mit den Paprikas nicht haushalten“, gibt Daniela Kramm an die Verkäuferinnen weiter. Eine Lieferung hat viel Gemüse umfasst. Und so packt Sunay Ceyhan den Kunden so viele Schoten in den Korb, wie diese es wünschen.

Milchprodukte sind rar geworden

„Seitdem der Krieg angefangen hat, ist das Dreifache an Leuten da“, sagt eine Kundin, die lieber anonym bleiben möchte. Sie bekommt eine Erwerbsminderungsrente und merkt an den eigenen Finanzen, wie sich die Inflation auswirkt. „Man muss sich noch mehr überlegen, was man sich noch leistet.“ Das sieht auch ein anderer Kunde ähnlich: „Sich mal was zu gönnen, ist schon lange nicht mehr drin“, sagt er. Sparen so gut es geht, sei die Devise. Doch auch in den Discountern seien die Preise ordentlich gestiegen, wie er beobachtet. Die Kundin sagt, sie selbst sei zum Glück sparsam und lebe nachhaltig. „Ich kaufe vielleicht einmal im Jahr eine Hose und da schaue ich zuerst hier im Sowas nach.“ Weil sie auch ein Herz für Tiere hat, kauft sie ab und zu Katzenfutter. „Das ist extrem teuer geworden.“ Milchprodukte hat sie an diesem Tag keine im Einkaufswagen. Diese seien im Angebot der Tafel weniger geworden sind.

Die Supermärkte kalkulieren knapper

Das bestätigt Daniela Kramm. Auch die Supermärkte müssen angesichts der Preissteigerungen sparen. „Da wird anders kalkuliert und knapper eingekauft“, weiß sie. Verderbliche Lebensmittel wie Obst, Gemüse und Backwaren bekommt die Tafel weiterhin, Haltbares wie Nudeln, Reis oder Konserven erhalte man hingegen kaum noch aus dem Handel. Auch fehle vielen Geschäften das Personal, welches die Abschreibungen vornehmen muss. Zwar versuche die Tafel, die Preise niedrig zu halten, doch auch sie muss zum Teil erhöhen. Wichtige Kriterien seien hierbei Qualität und Verfügbarkeit, so Kramm.

Ilona Smetaczek hilft seit vielen Jahren in der Tafel und im Sowas mit und bekommt die Not vieler Menschen zu spüren.

© Alexander Becher

Ilona Smetaczek hilft seit vielen Jahren in der Tafel und im Sowas mit und bekommt die Not vieler Menschen zu spüren.

Die aktuelle Situation hat einen traurigen Nebeneffekt, wie die langjährige ehrenamtliche Mitarbeiterin Ilona Smetaczek beobachtet hat. „Leider wird auch mehr gestohlen“, sagte sie und versucht, alles im Blick zu behalten. Das geschehe bei vielen aus purer Not heraus, denn „bei manchen ist das Geld sehr knapp“. Auch versuchten manche Kunden, mit der Mitarbeiterin über Preise zu verhandeln. Die Not ihrer Kundschaft ist auch bei Daniela Kramm angekommen. Menschen kommen mit der Stromrechnung in der Hand zu ihr und sagen: „Ich habe kein Geld mehr, um jetzt noch etwas zu essen zu kaufen.“ Große Sorge ist spürbar, viele bitten um Hilfe. Daher sind die Tafelverantwortlichen froh, dass angesichts der Not vieler Menschen die Spendenbereitschaft groß ist. „Wir erleben ein hohes Maß der Unterstützung von Privatpersonen“, sagt Heinz Franke. Das habe ihn positiv überrascht, machen die steigenden Kosten doch vor niemandem halt.

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Erstellt:
11. März 2023, 11:30 Uhr

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