An Erdoğan scheiden sich auch in Backnang die Geister

Die türkischstämmige Bevölkerung im Raum Backnang ist bei der Beurteilung des Präsidenten genauso hin- und hergerissen wie das gesamte Volk in der Heimat. Freunde und Gegner würdigen die früheren Verdienste des AKP-Politikers, die Opposition benennt auch die dessen Fehler.

Schicksalswahl für das Land an der Schwelle von Morgen- und Abendland. Auch die Backnanger Türken haben gewählt. Foto: stock.adobe.com/Zerbor

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Schicksalswahl für das Land an der Schwelle von Morgen- und Abendland. Auch die Backnanger Türken haben gewählt. Foto: stock.adobe.com/Zerbor

Backnang. Am Sonntag wählen die Türken. Das elektrisiert auch die meisten türkischstämmigen Menschen im Raum Backnang, zumal alle, die noch einen türkischen Pass haben, ebenfalls ihre Stimme abgeben dürfen. Wer auf dieses Wahlrecht pocht, der musste zwischen Mitte April und vergangenem Dienstag zum türkischen Konsulat nach Zuffenhausen fahren, dort war das Wahlbüro für den Großraum Stuttgart.

Die Frage lautet: Heißt der künftige türkische Präsident weiterhin Recep Tayyip Erdoğan, oder schafft es sein Herausforderer Kemal Kilicdaroglu, der gemeinsame Kandidat der türkischen Opposition, die Wende herbeizuführen? Bei der Recherche fällt Folgendes auf: Es gibt zwei Gruppen. Die einen schwärmen von den Leistungen Erdoğans und stehen dazu, die anderen wählen die Opposition, wollen aber auf keinen Fall in der Zeitung genannt werden. In Backnang zumindest war es nicht möglich, Gesprächspartner zu finden, die den Mut haben, sich klar gegen Erdoğan zu äußern.

„Ich sehe keinen kompetenten Kandidaten in der Opposition, der in der Lage wäre, die Probleme in der Türkei zu lösen.“

BfB-Stadtrat Erdal Demir hat kein Problem damit, seine Meinung in der Öffentlichkeit kund zu tun: „Ich wünsche Erdoğan den Wahlsieg, denn die Opposition hat keinen Plan. Nur zu sagen, Erdoğan muss weg, ist als Programm zu wenig.“ Wie alle Befragten verweist Demir sofort auf die Verdienste Erdoğans. „Man darf nicht vergessen, was dieser Mann in den vergangenen 20 Jahren geleistet hat.“ Früher habe es noch Kinderarbeit gegeben und das Gesundheitswesen sei katastrophal gewesen. Über die Opposition lacht Demir nur, „die haben in den vergangenen 20 Jahren jede Wahl verloren“. Zudem verweist er darauf, dass die Koalition aus sechs Parteien besteht, die in keinerlei Hinsicht auf einer Linie liegen. Auch würden Radikale dazu zählen. Demir: „Ich sehe keinen kompetenten Kandidaten in der Opposition, der in der Lage wäre, die Probleme in der Türkei zu lösen.“ Und davon gibt es einige. Er listet auf: PKK, der Krieg an der syrischen Grenze, die Flüchtlinge. „Ich vergöttere den Mann nicht. Aber er hat das bislang richtig gut gemacht.“ Demir hat nur ein Problem: Er ist Deutscher und darf nicht wählen. Ganz amüsiert sagt er: „Ich bin in Schwäbisch Hall geboren und schwäbischer als viele Schwaben. Ich habe meine Frau und meine Kinder zur Wahl nach Zuffenhausen gefahren. Die dürfen wählen, aber ich weiß nicht, wo sie ihr Kreuzchen gemacht haben.“

Das Tempo der Entwicklung beeindruckt sehr

Dass die Türken im Ausland mitbestimmen dürfen, wer ihre alte Heimat in Zukunft lenkt, darüber freut sich Murat Haber sehr. Der Backnanger, der bis zum 1. Mai dieses Jahres Vorstand der örtlichen Moschee war, weiß, dass es manch einen Deutschen irritiert, dass er die Politik in der Türkei mit beeinflussen darf. Ihnen antwortet er: „Es gibt auch einen Außenminister, der sich für uns Türken im Ausland einsetzt, und ich möchte bestimmen, von welcher Partei dieser gestellt wird.“ Obwohl Haber erst 37 Jahre alt und in Backnang geboren ist, erinnert er sich ebenfalls noch an längst vergangene Zeiten und vor allem an die damaligen Zustände in seiner Heimat. „Manche übertreiben und sprechen von Steinzeit oder Chaos pur. Das ist zwar übertrieben, aber zum Beispiel das Gesundheitswesen, das war katastrophal.“ Haber weiß aus eigener Anschauung, dass früher Patienten nach Operationen in den Krankenhäusern als Geisel genommen wurden, bis die Rechnung bezahlt war. „Das Tempo, wie sich das Land entwickelt hat, beeindruckt mich sehr. Egal ob Straßen oder Flughäfen. Heute bekommt jeder Beamte und jeder Rentner sein Geld, auf das er auch Anspruch hat.“

Haber räumt zwar ein, dass nicht alles perfekt läuft, „jeder macht einmal Fehler“, aber was die Regierung hinbekommen hat, das schätzt der Maschinenbautechniker sehr. „Alle Versprechungen haben sie auch in die Tat umgesetzt“, sagt der Bosch-Mitarbeiter.

Die Opposition hingegen stehe für exakt das Gegenteil. Es sind laut Haber zu viele Parteien, die gegen Erdogan antreten, „ein buntes Gemisch, das dermaßen unterschiedlich ist, die passen nicht zusammen“. Mit der Konsequenz, dass sie sich auf keine Projekte einigen können. Haber: „Ihr Slogan lautet nur: ,Alles wird schön.‘ Aber das ist nichts Handfestes.“

„Erdoğan wurde im Laufe der Jahre übermütig und fast schon größenwahnsinnig“

Ganz anders sieht es ein erfolgreicher Geschäftsmann, der seit Jahrzehnten im Raum Backnang lebt. Zwar ist auch für ihn das Rennen um die zukünftige Macht in der Türkei völlig offen, 50 zu 50, so lautet seine Einschätzung. Aber er betrachtet er die Person des Präsidenten sehr differenziert. „Erdoğan ist rhetorisch sehr stark, mehr noch, er ist überragend. Wenn man eine andere Meinung hat als er, dann bekommt man fast schon ein schlechtes Gewissen.“ Auch über die politischen Anfänge lässt der Mittfünfziger nichts kommen, „er hat dem Land gut getan und einiges erreicht auf dem Gebiet der Infrastruktur und dem Sozialwesen“. Allerdings habe sich Erdoğan zum Schlechten entwickelt, „er wurde übermütig und fast schon größenwahnsinnig, für mich ist er heute ein kranker Mann“. Die Einschätzung des Geschäftsmanns lautet: „Erdoğan orientiert sich an den osmanischen Sultanen, sie sind seine Vorbilder.“ Das hat auch etwas mit dem gekränkten Selbstwertgefühl der Türken zu tun. Sie leben an der Schnittstelle des Morgen- und Abendlandes, immer spielen auch noch arabische Einflüsse mit hinein. „Die Türken sind ein gespaltenes Volk. Und unter Erdoğan ist ihr Selbstbewusstsein wieder gestiegen. Überall heißt es: ,Wir sind wieder wer, wir werden wieder ernst genommen.‘“

Damit werde die Türkei aber von der Moderne und von der EU weggerückt. Als Beispiel nennt er den Umgang mit Oppositionellen. „Wer nicht pariert, wird weggesperrt. Zwar nicht von Erdoğan selbst, aber von dessen Richtern.“ Der Deutschtürke ist daher überzeugt: „Ein Machtwechsel tut der Türkei gut.“ Als Unternehmer hat er auch gute Einblicke ins Wirtschaftsleben: „Alle Unternehmen, die ich kenne, wollen einen Regierungswechsel.“ Wie sehr sich die Stimmung gedreht hat, macht er an seiner Verwandtschaft in der Türkei fest: „Von meinen Brüdern wählt keiner Erdoğan. Und selbst meine Mutter, die einst zu 100 Prozent hinter ihm stand, kommt inzwischen ins Wanken.“

Angst und Verunsicherung

Wie groß die Angst oder zumindest die Verunsicherung bei oppositionellen Deutschtürken ist, hat die Recherche gezeigt. In mehrere Läden haben die Angestellten und Geschäftsführer mit dem Zeitungsmann gesprochen. Oft war das Argument zu hören, man kümmere sich nicht so sehr um Politik, weil man schon seit 40 oder 50 Jahren in Deutschland lebt. Aber spätestens im zweiten Satz wurden die Zustände in der alten Heimat thematisiert: die Einschränkung der Meinungsfreiheit, der Zerfall der Lira. „Für uns ist die horrende Inflation in der Türkei gut, aber die armen Menschen dort...“ Und dann verabschiedet sich ein Mann mit Worten, von denen man glaubt, sie stammen aus längst vergangenen Zeiten oder aus einem schlechten Krimi: „Ich habe nichts gesagt. Sie waren nicht bei mir.“

Morgen haben die Türken die Wahl.

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Erstellt:
13. Mai 2023, 06:00 Uhr

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