Auf die Abwehrkräfte kommt es an
Die American Footballer von Stuttgart Surge treffen im Play-off-Halbfinale an diesem Sonntag auf den amtierenden ELF-Meister Rhein Fire. Die Gastgeber gehen selbstbewusst in das wichtigste Spiel der Saison im Gazi-Stadion – in dem vor allem die Defensive gefordert sein wird.
Von Jochen Klingovsky
Stuttgart - Im Profi-Sport besteht kein Mangel an klugen Sprüchen und guten Ratschlägen. Eine der wichtigsten Weisheiten dreht sich um die Abwehrkräfte. „Die Offensive gewinnt Spiele“, lautet sie, „die Defensive Meisterschaften.“ Auch Jordan Neuman hat sich mit dieser Erkenntnis immer wieder beschäftigt, und der Cheftrainer von Stuttgart Surge schreibt dem Satz einen durchaus hohen Wahrheitsgehalt zu. Zugleich ist für ihn völlig klar, dass sein Team an diesem Sonntag (15.15 Uhr) im Gazi-Stadion im Play-off-Halbfinale der European League of Football (ELF) gegen den amtierenden Meister Rhein Fire mehr braucht als eine Verteidigung auf höchstem Niveau. „Es wird auf alle Elemente im Spiel ankommen“, sagt Jordan Neuman. Er betont aber auch: „Wir müssen den Lauf unseres Gegners stoppen. Das ist der Schlüssel.“ Wie die Stuttgarter aus leidvoller Erfahrung wissen.
Vor einem Jahr stand das Surge-Team dem großen Rivalen aus Düsseldorf schon einmal gegenüber, damals im ELF-Finale. Rhein Fire spielte in gewohnter Umgebung in Duisburg, beide Mannschaften zeigten ein Offensivspektakel – in dem der Favorit letztlich noch stärker, noch effizienter, noch durchschlagskräftiger war. Rhein Fire siegte mit 53:34. Die Stuttgarter waren damals enttäuscht, ein bisschen auch über sich selbst und ihre Defensivleistung, schließlich hätte ihre Punktausbeute in vielen Spielen zum Sieg gereicht. Nun besteht vor den eigenen Fans die Möglichkeit zur Revanche. Neuman spricht nicht davon, dass noch eine Rechnung offen sei. Aber er betont, wie motiviert seine Jungs sind: „Wir sind zuversichtlich, unser bestes Spiel der Saison zu zeigen. Und dann haben wir eine gute Chance.“
Das Finale findet am 22. September in der Arena in Gelsenkirchen statt, der Gegner wird an diesem Samstag (15.15 Uhr) im zweiten Halbfinale zwischen den Vienna Vikings und den Paris Musketeers ermittelt. „Wir sind stolz darauf, da zu sein, wo wir jetzt sind“, sagt Suni Musa, der Geschäftsführer von Stuttgart Surge vor dem Halbfinale, „jetzt soll es noch weitergehen.“ Dafür muss jedoch die Defensive stabiler stehen als vor einem Jahr. Was erneut nicht einfach wird.
Rhein Fire verfügt über das beste Laufspiel der ELF, wofür vor allem ein Mann verantwortlich ist: Runningback Glen Toonga trug den Ball in dieser Saison 1630 Yards nach vorne, kam auf einen beeindruckenden Schnitt von 125,3 Yards pro Partie und insgesamt 32 Touchdowns. Er ist erster Kandidat für die Auszeichnung als bester Spieler der ELF, die Stimme von Jordan Neuman hätte er: „Diese Ehrung wäre verdient, er ist auf jeden Fall der stärkste Runningback der Liga.“ Der im Angriff von Rhein Fire allerdings nicht auf sich alleine gestellt ist.
Lieblingsanspielstation von Quarterback Jadrian Clark ist Harlan Kwofie, der beim klaren 40:10-Erfolg gegen die Madrid Bravos im Play-off-Viertelfinale vier (!) Touchdown-Pässe fing. Und trotzdem gilt das Hauptaugenmerk von Jordan Neuman dem Laufspiel des Meisters. „Rhein Fire hat ein anderes System als viele ELF-Teams, es bewegt sich – sehr gut gecoacht – in einem kleineren, engeren Bereich. Das ist perfektes Rasenschach“, erklärt der Surge-Cheftrainer, „wir haben uns extrem intensiv und hoch konzentriert darauf vorbereitet. Wir müssen bereit sein, jedes Loch zu stopfen und auf jede Bewegung des Gegners zu reagieren. Am wichtigsten wird sein, die Angreifer, wenn wir an ihnen dran sind, auch zu Fall zu bringen.“ Dass dies möglich ist, daran hat Neuman keine Zweifel: „Unsere Defensive ist eine der besten in der ELF, sie macht einen extrem guten Job.“
Und wenn der Ballbesitz wechselt? Ist die Konstellation ziemlich ähnlich.
Keine Mannschaft in der Liga hat weniger Punkte und weniger Raumgewinn zugelassen als Rhein Fire. Und keine Offensive hat mehr Punkte erzielt als die Stuttgarter, deren großer Vorteil die Variabilität ist. Quarterback Reilly Hennessey, der erneut eine herausragende Saison absolviert, hat in Louis Geyer, Yannick Mayr, Darrell Stewart, Jan Pietsch, Nico Wiedmann, Nicolas Khandar, Levin Liebenow und Kai Hunter sowohl starke Ballträger wie auch herausragende Passempfänger an seiner Seite – die auf unkonventionelle Abwehrspieler treffen. „Rhein Fire agiert in der Defensive ganz anders als in der Offensive“, sagt Neuman, „die Taktik ist, den Gegner machen zu lassen, im Vertrauen darauf, am Ende einfach besser zu sein.“
Ob es so kommt? Das Surge-Team zeigt Respekt vor dem starken Kontrahenten, doch Neuman hat seinen Jungs immer wieder gesagt, dass sie nicht wie ein Außenseiter auftreten dürfen. „Das ist nicht unsere Mentalität“, erklärt er, „wir haben den Heimvorteil, müssen uns vor niemandem verstecken.“ Weshalb sich der Coach noch keine Gedanken darüber gemacht hat, was passiert, sollte die Saison für seine Mannschaft am Sonntagabend beendet sein: „Ich habe keine Ahnung, was ich in meiner Abschlussrede sagen würde. Ausscheiden ist keine Option.“ Auch dieser Satz wird im Gazi-Stadion auf seinen Wahrheitsgehalt überprüft.