Ausgaben trotz kostenloser Leihbücher
Lernmittelfreiheit: Schulen haben Gestaltungsspielräume – Wie Eltern damit umgehen, ist auch ein weites Feld
Offiziell herrscht in Baden-Württemberg Lernmittelfreiheit: Schulbücher, Arbeitshefte und alle Lernmittel bis zu einer Bagatellgrenze von einem Euro bekommen Schüler unentgeltlich gestellt. Tatsächlich sieht das im wahren Schulleben manchmal anders aus, schildern Eltern. Die Gesamtelternbeiratsvorsitzende Silke Ade-Valente sieht an Backnangs Schulen aber „keine wesentlichen Beanstandungen“.
Von Nicola Scharpf
BACKNANG. Hier mal fünf Euro für Bastelmaterial, da mal fünf Euro für die neue Lektüre. Im Laufe eines Schuljahrs können sich solche kleinen Beträge ganz schön summieren. So schreibt Heike Kühnle via Facebook: „Wir haben für die 10. Klasse Realschule ungefähr 85 Euro für Zusatzmaterial wie Arbeitshefte, Kochgeld und Extrabücher, die im Unterricht gebraucht werden, ausgegeben. Dazu kommen noch mal zirka 40 Euro für das normale Verbrauchsmaterial wie Hefte, Blöcke, Extrastifte und Ordner.“ Beträge in ähnlicher Größenordnung führen auch andere Eltern an: Mit 50 bis 150 Euro sei man je nach Klassenstufe im Laufe des Jahres dabei, schätzt Facebook-Userin Mari Ini. „Es hört nie auf, was das Zahlen betrifft. Wenn man mehr als zwei Kinder in der Schule hat, braucht man echt zwei Nebenjobs“, stöhnt Lola Bleifuss.
Werden Familien tatsächlich finanziell so stark in die Pflicht genommen? Ist das erlaubt? Schließlich hat das Recht auf Lernmittel in Baden-Württemberg Verfassungsrang. Dort steht: „Unterricht und Lernmittel an den öffentlichen Schulen sind unentgeltlich.“ Grundsätzlich muss die Schule also alle Lernmittel kostenlos stellen, außer Gegenstände unter einer Bagatellgrenze von einem Euro. Als Lernmittel bezeichnet man Arbeitsmaterialien, die die Schüler zur erfolgreichen Teilnahme am Unterricht benötigen – laut Kultusministerkonferenz sind das im Wesentlichen Schulbücher, Taschenrechner, Zirkel, Zeichengeräte. Lernmittel können auch zum Verbrauch zugelassen werden, wenn Art oder Zweckbestimmung des Lernmittels eine Leihe ausschließen – zum Beispiel Arbeitshefte oder Kopien. Davon zu unterscheiden sind Lehrmittel für den Unterricht, wie zum Beispiel geografische Karten, die zur Ausstattung der Schule gehören. Außerunterrichtliche Veranstaltungen wie Ausflüge oder Partnerschaftsaufenthalte zählen ebenso wenig zu den Lernmitteln wie Schulbedarfsartikel (Schulhefte, Schulranzen, Bekleidung für den Sportunterricht).
Für die Umsetzung der Lernmittelfreiheit sind die jeweiligen Schulleitungen verantwortlich. Es gebe von Schulart zu Schulart einen gewissen Gestaltungsspielraum, sagt Backnangs geschäftsführender Schulleiter Heinz Harter.
Die Lernmittelfreiheit sei ein Thema, das über viele Jahre hinweg eine Rolle spielt, sich aber zuletzt deutlich beruhigt habe. Harters Interpretation dessen: „Die Schulen kommen der Zielsetzung ganz gut nach.“ Hauptidee der Lernmittelfreiheit sei das Ausleihprinzip – also dass die Kommune als Schulträgerin die Kosten für die Anschaffung von Lernmitteln übernimmt und diese dann von den Schulen an die Schüler verliehen werden. „Das Ausleihprinzip hat sich durchgesetzt“, sagt Harter. Bei Schulbüchern sei das nahezu flächendeckend der Fall. Arbeitsgeräte wie Taschenrechner, die die Schulen auch leihweise zur Verfügung stellen, schaffen Familien hingegen häufiger selbst an.
Ein Aspekt, der die User in Facebook umtreibt, ist der Computer beziehungsweise der Zugang zu aktuellen PC-Programmen. Swen Simon schreibt: „Von einem Schüler in der Oberstufe wird bei einem Referat der Umgang mit MS-Office-Produkten vorausgesetzt. Alleine eine Anschaffung eines Computers mit Lizenzen für alles beläuft sich auf zirka 700 bis 1000 Euro.“Heinz Harter merkt an, dass es eher selten vorkomme, dass Schüler keinen Computer zu Hause haben. Aber für solche Fälle hält seine Schule, die Max-Eyth-Realschule, Schülercomputer bereit. So räumt die Schule den Jugendlichen innerhalb der Schule die Möglichkeit der PC-Nutzung ein.
Die Vorsitzende des Backnanger Gesamtelternbeirats (GEB), Silke Ade-Valente, sieht an den öffentlichen Schulen der Murr-Metropole keine wesentlichen Beanstandungen in der Umsetzung der Lernmittelfreiheit. „Aber es gibt Ausnahmen“, sagt sie und führt als Beispiel die Anschaffung des Taschenrechners an: Wenn der Lehrer eine Sammelbestellung für die gesamte Klasse vorschlägt, die Kostenbeteiligung der Eltern quasi als selbstverständlich vorausgesetzt wird, würden sich Eltern zur Bestellung verpflichtet fühlen. Dabei sind sie mitnichten dazu verpflichtet, wissen das aber oft gar nicht. Die GEB-Vorsitzende rät Eltern, dass sie sich des Rechts auf Lernmittelfreiheit bewusst machen, dass sie also nachdenken, ob es sich bei einer Anschaffung um ein Muss oder ein Kann handelt. Sollte es Zweifel über die Umsetzung der Lernmittelfreiheit geben, sollten sich Eltern über den Elternbeirat der jeweiligen Schule an die Schulleitung wenden, sagt Ade-Valente. Grundsätzlich sei es ein weites Feld, wie Eltern mit der Lernmittelfreiheit umgehen. „Es gibt Eltern, die wollen etwas Neues haben und kaufen Arbeitsmaterialien, wie zum Beispiel einen Atlas, selbst.“ Demgegenüber stehen Familien mit finanziellen Problemen und auch oft mit der Scham ob dieser Finanzknappheit. „Eltern sollten sich nicht scheuen“, unterstreicht Ade-Valente. Wer Unterstützung benötige, solle das gegenüber der Schulleitung kommunizieren.
Finanzielle Entlastung ermöglicht einerseits das Bildungs- und Teilhabepaket des Bunds. Anlaufstelle für Unterstützung bei außerunterrichtlichen Aktivitäten wie Ausflüge sind die Fördervereine der Schulen, die Elternbeiräte oder auch der Sozialfonds Schulen.

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„Die Schulen kommen der Zielsetzung ganz gut nach. Das Ausleihprinzip hat sich durchgesetzt.“ Heinz Harter Geschäftsführender Schulleiter

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„Ich sehe an Backnangs Schulen keine wesentlichen Beanstandungen. Aber es gibt Ausnahmen.“ Silke Ade-Valente Vorsitzende Gesamtelternbeirat