Autoscheibe zertrümmert, Nachbarn bedroht

Angeklagter kommt mit Weisung davon – Verminderte Schuldfähigkeit aufgrund Drogenkonsums und einer Psychose

Autoscheibe zertrümmert, Nachbarn bedroht

© BilderBox - Erwin Wodicka

Von Hans-Christoph Werner

BACKNANG. Knapp zwei Jahre ist die Sache her. Der Staatsanwalt hält es dem 22-jährigen Backnanger mit der Anklageschrift vor. Im August 2017 trat er in den frühen Abendstunden, angetrunken und laut rumkrakeelend, erst gegen den Rückspiegel eines geparkten Wagens, dann hob er einen Kanaldeckel aus der Fahrbahn und legte ihn am Rand ab. Schließlich griff er sich das Endstück einer Regenrinne und zertrümmerte damit das Fenster eines weiteren Fahrzeugs. Schließlich soll er noch ein Kinderfahrrad gegen eine Hauswand geschleudert haben. Zwei Monate später gab er es der über ihm wohnenden Familie schriftlich: Er werde sie alle umbringen. Der Familienvater ging mit dem Brief zur Polizei und erstattete Anzeige. So kam zum Vorwurf der Sachbeschädigung, dem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr noch der Anklagepunkt Bedrohung hinzu. Alles gibt der Angeklagte zu. So weit er sich erinnern kann.

Mit den Hausmitbewohnern sei er schon länger über Kreuz. Denn die würden ihn ausspionieren. Immer, wenn er sich zum Essen setze, würden in dem hellhörigen Haus Stühle gerückt. Und wenn er die Toilette benutze, würden die über ihm zu poltern anfangen. Er wolle ja nur in Ruhe gelassen werden. Auf die Frage des Staatsanwalts, ob sich der Drohbrief gelohnt habe, antwortet der Angeklagte ohne zu zögern: „Ja“. Das mit den anderen Anklagepunkten, so der junge Mann, verhalte sich folgendermaßen. Am Tattag sei er in Calw aus einer psychiatrischen Klinik entlassen worden und mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nach Backnang gefahren. Anschließend habe er einen Sixpack Bier geleert. Als dann wieder das Gepolter in der Wohnung über ihm zu hören war, sei er ausflippt und rausgegangen.

Gutachterin wundert sich über die Klinikentlassung des Mannes

Der Psychiater, bei dem der Angeklagte in Behandlung ist, wird gehört. Es dauert immer etwas mit seinen Antworten, denn die Krankenakten hat man heute in digitaler Form auf dem Laptop. Das richtige Dokument muss erst angeklickt werden. Die Schrift muss zudem sehr klein sein, berührt doch der Facharzt mit seiner Nase fast den Bildschirm. Anpassungsstörung und übermäßiger Cannabiskonsum sind die Stichworte, die hängen bleiben. Nur von kurzer Dauer ist die Vernehmung eines Polizeibeamten. Weder mit dem Angeklagten noch mit den Geschädigten hatte er Kontakt, berichtet nur die Aktenlage. Wie man denn auf den Angeklagten gekommen sei? Der Beamte sagt, dass er im Grunde nichts weiß. Einzig zwei Anwohnerinnen haben das Geschehen zufällig beobachtet. Sie beschreiben Kleidung und Haarfarbe des angeblichen Täters. Aber eine Wahllichtbildvorlage bei der Vernehmung durch die Polizei gab es nicht. Schließlich sagt noch der 68-jährige Familienvater aus, der den Drohbrief erhielt. Einzelheiten über die schwierige Beziehung zwischen ihm und dem Angeklagten können dem Zeugen nicht entlockt werden. Die Vernehmung scheitert an sprachlichen Barrieren. Die Muttersprache des Mannes ist nicht Deutsch.

Eine Fachärztin für Psychiatrie ist als Gutachterin geladen. Sie hat den Angeklagten zuvor nicht persönlich gesprochen, aber bei der Zeugenvernehmung und den Angaben zur Person immer wieder Fragen gestellt. Sie berichtet aus den ihr zugänglichen Krankenakten. In einer Tagesklinik für Suchttherapie, in der sich der Angeklagte einen Monat vor der Tat aufhielt, sei eine Cannabisabhängigkeit festgestellt worden. Aber auch der Kokaintest sei positiv ausgefallen. Unmittelbar vor der Tat war der Angeklagte erneut in stationärer Behandlung. Was die behandelnden Ärzte allerdings nicht realisierten, war, dass sich bei ihrem Patienten aus der Cannabisabhängigkeit eine Psychose entwickelt hatte. Denn just in dieser Zeit, so gibt der Angeklagte selbst an, habe sich bei ihm das Empfinden entwickelt, dass ihn jemand verfolge und ihm immer wieder über die Schulter schaue. Leibhalluzination nennt die Fachärztin dies. Darum gehe er auch anders, bleibe stehen, schaue sich um. Auch alles andere, was der Angeklagte von sich berichtet, passe in dieses Krankheitsbild. Die Aufmerksamkeit sei reduziert, der Antrieb schwach, die Stimmung gedrückt. Außerdem, so hatte der Angeklagte zuvor freimütig zugegeben, konsumiere er hin und wieder Cannabis. Was wiederum der Psychose Vorschub leiste. Die Fachärztin kann nicht verstehen, warum man den Angeklagten aus der Klinik entlassen habe, obwohl doch die Psychose bei genauer Beobachtung festzustellen war. Der Angeklagte sei bei seinen Taten nicht Herr seiner Sinne gewesen, wenngleich er sicherlich wusste, dass man das, was er tat, nicht tun darf.

Der Staatsanwalt plädiert deshalb, nachdem dies die Vertreterin der Jugendgerichtshilfe schon vor ihm getan hatte, auf verminderte Schuldfähigkeit. Er will dem Angeklagten nur ein Drogenscreening über 24 Monate auferlegen. Die Sache mit dem Kanaldeckel lässt er ganz fallen, da für diese Tat keine Zeugen aufzubieten waren. Auch die Verteidigerin des Angeklagten traktiert die Frage, wie ihrem Mandanten sinnvoll zu helfen sei. Sie schlägt die Auferlegung einer Drogenberatung vor. Nach kurzer Beratungszeit urteilt der Jugendrichter: Der Angeklagte, schuldig der Sachbeschädigung in zwei Fällen und der Bedrohung, wird nach Paragraf 21 des Strafgesetzbuches (verminderte Schuldfähigkeit) freigesprochen. Sechs Termine bei der Drogenberatung werden dem jungen Mann auferlegt, ferner ein regelmäßiges Drogenscreening über ein Jahr hinweg. Da der junge Mann mit der Schadenswiedergutmachung schon durch monatliche Überweisungen nachkomme, wolle man ihm das auferlegen, was seine Gesundung fördere.

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Erstellt:
10. Mai 2019, 06:00 Uhr

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