Backnangerin spricht über soziale Teilhabe als Behinderte

Turmgespräche Anne-Lisa Oesterle hat eine geistige Behinderung und bewältigt ihren Alltag selbstständig. Ihre Familie ist ihr dabei wertvoll. Beschimpfungen bringen sie zum Heulen. Umso mehr freut sie sich, dass die vielen Stufen in den Stadtturm hinauf für sie kein Hindernis sind.

Anne-Lisa Oesterle sieht vom Stadtturm die „Alte Post“, die sie wegen des Treffs der Paulinenpflege ansteuert, das Bettenhaus Windmüller, wo sie ihren Arbeitsplatz hat, und ihre Patentante, der sie freudig zuwinkt. Fotos: Alexander Becher

© Alexander Becher

Anne-Lisa Oesterle sieht vom Stadtturm die „Alte Post“, die sie wegen des Treffs der Paulinenpflege ansteuert, das Bettenhaus Windmüller, wo sie ihren Arbeitsplatz hat, und ihre Patentante, der sie freudig zuwinkt. Fotos: Alexander Becher

Wir haben miteinander vereinbart, dass wir uns duzen. Weshalb möchtest du lieber geduzt als gesiezt werden?

Mit dem Sie tue ich mir schwer. Die meisten Leute sagen du zu mir, mein Chef manchmal du und manchmal Sie. Es fällt mir leichter, du zu sagen.

Du hast verraten, dass du dich sehr freust auf unser Gespräch. Warum?

Ich bin sehr nervös. Wenn es etwas Neues gibt, bin ich aufgeregt. Ich mag Neues und Aufregendes, darüber freue ich mich.

Du arbeitest an den Vormittagen im Backnanger Bettenhaus Windmüller. Wie kam es dazu, dass du dort deinen Arbeitsplatz bekommen hast?

Mein Opa war dort Kunde. Er hat mir vorgeschlagen: Das wäre ein Arbeitsplatz für dich. Durch das evangelische Jugendwerk kennen sich meine Eltern und mein Chef seit mehr als 40 Jahren. So hat mich mein Chef für ein Praktikum im Bettenhaus aufgenommen. Dann ist aus dem Praktikum ein Arbeitsplatz geworden.

Was sind deine Aufgaben?

Ich bringe Sendungen zur Post. Wenn Ware geliefert wird, öffne ich die Pakete und kontrolliere sie. Ich helfe meinen Kollegen bei vielem – außer im Verkauf. Ich bügele die Bettwäsche, bevor sie zur Dekoration ins Schaufenster kommt. Wenn sie noch verpackt ist, hat sie Falten. Die bügele ich raus.

Das sind wichtige Aufgaben. Macht dir deine Arbeit Spaß?

Ja, ganz arg. Ich bin schon seit zehn Jahren dort beschäftigt. Meine Kollegen mag ich auch sehr – und sie mögen mich.

Du wohnst in Kleinaspach. Wie kommst du nach Backnang zur Arbeit?

Ich fahre mit dem Bus und manchmal bei schönem Wetter mit dem Fahrrad. Da bin ich eine Weile unterwegs. Aber mit dem E-Bike geht es, da bin ich schnell. Meine Eltern haben die Strecke mit mir vorher geübt, damit ich weiß, wie ich fahren muss. Und seitdem kann ich das alleine.

Du wohnst auch selbstständig in deiner Wohnung.

Ich lebe dort seit zwei Jahren alleine, mit Unterstützung. Es war mein Wunsch, eine eigene Wohnung zu haben. Meine Eltern haben das unterstützt, weil sie fanden, dass ich dafür selbstständig genug bin. In der Nähe vom Haus meiner Eltern wurde damals ein neues Haus gebaut und über eine Bekannte im Ort habe ich die Wohnung bekommen. Ich habe durch meine Mutter gelernt, vieles selbst zu machen. Das Wäschewaschen hat mir meine Patentante beigebracht. Das habe ich am Anfang noch nicht gekonnt und jetzt kann ich es ganz alleine.

Du hast deine Eltern erwähnt. Welche Menschen sind für dich noch wichtig?

Meine gesamte Familie, meine drei Geschwister mit meinen Neffen und Nichten, und mein Freund sind für mich wertvoll.

Was unternimmst du gerne gemeinsam mit deinem Freund?

Mein Freund wohnt in Backnang. Wir gehen zusammen in den Treff von der Paulinenpflege, der immer montags und donnerstags stattfindet. Dort machen wir Spiele oder gucken Fotos an, wenn wir zusammen im Urlaub waren, wir quatschen und lachen.

Anne-Lisa Oesterle ist ein fröhlicher, positiver und herzlicher Mensch. Sie freut sich, dass sie vieles selbstständig kann – dank der Unterstützung ihrer Familie.

© Alexander Becher

Anne-Lisa Oesterle ist ein fröhlicher, positiver und herzlicher Mensch. Sie freut sich, dass sie vieles selbstständig kann – dank der Unterstützung ihrer Familie.

Du bist sehr musikalisch, bist du Bandmitglied bei den Cool Chickpeas?

Nein, aber ein guter Freund von mir spielt dort mit. Ich bin auch mal gefragt worden, ob ich mitmachen möchte. Sie haben damals eine Sängerin gesucht. Ich habe mich dagegen entschieden, weil es mir sonst zu viel wird. Ich spiele in einer anderen Musikgruppe Veeh-Harfe, bin Hilfsmesnerin in meiner Kirchengemeinde in Kleinaspach und werde auch sonst sehr oft gefragt, ob ich bei etwas mitmachen möchte oder zu Ausflügen mitkommen will.

Bei den Auftritten der Cool Chickpeas bist du dann als Zuhörerin dabei?

Ja, sie sind neulich bei uns im Windmüller-Parkhaus aufgetreten. Da war ich dabei, mein Chef auch und ein paar Kollegen. Ich mag gerne unter vielen Leuten sein. Unternehmungen machen mir große Freude.

Hast du mit deiner Musikgruppe, in der du Veeh-Harfe spielst, auch Auftritte?

Ja, demnächst haben wir wieder einen Auftritt. Wir überlegen schon, welche Stücke wir spielen möchten und sind am Üben. Manchmal verspiele ich mich bei Auftritten und denke mir: Ups. Ich versuche das dann zu überspielen und mir nicht anmerken zu lassen, dass ich einen Fehler gemacht habe.

Das ist klug.

(Lacht.) Ich spiele auch manchmal in der Kirche. Manchmal wird der Gottesdienst aufgezeichnet, dann kann ich es mir anschließend nochmals angucken, ob man die Verspieler überhaupt hört. Aber man hört wirklich alles. Ich habe ein Mikrofon, das die Veeh-Harfe verstärkt. Dann hört man jeden Ton. Ich kann über Fehler lachen. (Zuckt die Schultern.) Das passiert halt.

Gibt es etwas, das du besonders gut kannst?

Ich male sehr gerne. Ich habe schon mal ein Pferdebuch, den Immenhof, abgeschrieben und habe mir im Internet Bilder dazu ausgedruckt und diese schön ausgemalt. In der Coronazeit habe ich das Buch abgeschrieben, damit es nicht so langweilig wird, weil wir lange den Laden geschlossen hatten.

Sicherlich kennst du den Backnanger Aktivisten Niko Daoutis. Er hat einen Brief geschrieben und veröffentlicht. Darin fordert er einen respektvollen Umgang mit Menschen mit Behinderung. Daoutis sagt, dass Menschen ohne Behinderung ihn nicht gut behandeln, dass sie ihn anpöbeln und auslachen. Geht es dir manchmal wie ihm?

Ja, das ist mir auch schon passiert, aber nicht bei uns im Dorf. Ich habe geheult, bin zu meiner Mutter gegangen und habe ihr vom Vorfall erzählt. Es fühlt sich gar nicht gut an, wenn man das so mitbekommt. Wenn zum Beispiel Jugendliche zu mir sagen: Du bist ja voll behindert. Das empfinde ich als Schimpfwort. Ich sage in dem Moment zwar immer nichts dazu, denke mir allerdings: Das muss jetzt aber nicht sein.

Es kann nicht jeder hier oben auf dem Stadtturm sein, ein Mensch, der im Rollstuhl sitzt...

...stimmt, der kann nie hier hochkommen. Das Tollste waren heute die Glocken im Stadtturm, die geläutet haben, als wir danebenstanden. Wie man das spürt, so ganz nah. Und wie die Glocken ausklingen, das hört sich so schön an und beruhigend.

Du wirkst sehr fröhlich und herzlich. Worüber freust du dich besonders?

Als mir meine Eltern verraten haben, dass eine Bekannte aus Kleinaspach eine Karte für das Heimspiel von Andrea Berg für mich hat, habe ich mich riesig gefreut. Ich war auch mal bei einem Backstagetermin dabei und durfte ein Foto mit Andrea Berg machen. Das war sehr aufregend. Sie ist zu mir gekommen und hat gesagt: Schön, dass du da bist. Ich bin ein ganz arger Fan. Auch mit meinen Neffen und Nichten habe ich sehr viel Spaß, ich spiele gerne mit ihnen. Inzwischen spielen sie aber oft selbstständig, dafür sind sie jetzt groß genug.

Das Gespräch führte Nicola Scharpf.

Blick vom Turm

Inklusion Anne-Lisa Oesterle kam vor 33 Jahren mit einer Chromosomenbesonderheit zur Welt. Trotz ihrer geistigen Behinderung wohnt sie selbstständig in ihrer Wohnung und hat eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt.

Betreuung Vom Stadtturm aus sieht sie das Amtsgericht. Dort hat sie Termine, wenn sie ihr Einverständnis dazu aktualisieren muss, dass sie weiterhin ihre Eltern als ihre gesetzlichen Vertreter haben möchte.

Begegnung „Dr’Treff“ der Paulinenpflege ist in der „Alten Post“ in der Bahnhofstraße untergebracht. Am Montag- und Donnerstagnachmittag trifft sich Anne-Lisa Oesterle dort mit ihrem Freund und ihren Freunden. An angebotenen Ausflügen nimmt sie gerne teil und geht in der Gruppe auf Reisen – wie zuletzt im Juni nach Rhodos.

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Erstellt:
31. Juli 2023, 06:00 Uhr

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