Bahnstreik der GDL: Go-Ahead-Züge im Stresstest
Der erste große Bahnstreik der GDL im Jahr 2024 legt den Schienenbetrieb über weite Strecken lahm. Lediglich die Züge von Go-Ahead verkehren am Mittwoch nach Plan, ebenso wie die Busse und Straßenbahnen. Aber genügt das für den Berufsverkehr? Ein Selbstversuch.
Von Kai Wieland
Rems-Murr. „Wie Sie vielleicht schon bemerkt haben, ist unser Zug heute stark besucht. Woran das wohl liegen mag?“, lautet die Ansage im Regionalzug RE90 von Backnang nach Stuttgart am gestrigen Mittwochmorgen. Die Frage ist freilich rhetorischer Art, denn alle Bahnpendler dürften mitbekommen haben, dass die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) seit gestern früh bis voraussichtlich morgen Abend wieder einmal die Deutsche Bahn bestreikt. Manch einer mag sich da wundern, wieso der RE90 überhaupt in Richtung Landeshauptstadt unterwegs ist. Es liegt daran, dass diese Linie vom Verkehrsunternehmen Go-Ahead betrieben wird, das sich anders als die Deutsche Bahn Anfang Januar mit der GDL einigen konnte.
Trotz des flächendeckenden Streiks fahren am frühen Mittwochmorgen daher stündlich, im weiteren Tagesverlauf alle zwei Stunden Regionalzüge von Backnang über Winnenden, Waiblingen und Bad Cannstatt nach Stuttgart, während die S-Bahnen sowie die von der DB betriebenen Regionalzüge der Linien MEX19/90 stehen. Aber genügt das, um das frühmorgendliche Pendleraufkommen zu stemmen? Das wollte ich mir gerne selbst anschauen und habe einen Selbstversuch gewagt.
Die Züge sind voll, aber zuverlässig
Die Auswahl einer geeigneten Verbindung für den Test stellt sich als gar nicht so einfach heraus. Da regelmäßig Regionalzüge verkehren, sind viele weite Strecken mit etwas Planung und Timing kaum beeinträchtigt, wohingegen sich der Streik wie ein Brennglas auf das teils rudimentäre Busangebot in ländlichen Kommunen legt. So ist es am gestrigen Mittwoch etwa deutlich einfacher und auch schneller, mit den Öffentlichen von Murrhardt ins Mercedes-Benz-Werk in Untertürkheim zu gelangen als von Kirchberg an der Murr nach Backnang – normalerweise eine neunminütige Fahrt mit der S4. Während des Streiks sind dafür drei bis vier Umstiege mit dem Bus notwendig und selbst davon gibt es nur eine Handvoll Verbindungen im Lauf des Tages. Letztlich fällt meine Wahl auf die Strecke von Backnang nach Fellbach: Es handelt sich um eine typische Pendlerstrecke, die einerseits vom Streik beeinträchtigt ist, andererseits aber nicht so sehr, dass die Anreise mit dem ÖPNV völlig absurd wäre.
Eigentlich ist die Anbindung sogar ideal. Im 2019 eröffneten Werk 8 des vor allem für seine Motorsägen bekannten Industrieunternehmens Stihl sind rund 500 Mitarbeiter beschäftigt, darunter auch viele aus Backnang und Umgebung, wie Sabrina Haufler, Referentin externe Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit, bestätigt. Es befindet sich im Industrie- und Gewerbegebiet in der Höhenstraße in Fellbach, nur wenige Gehminuten vom Bahnhof entfernt und in unmittelbarer Nachbarschaft zu Niederlassungen und Werken anderer großer Firmen wie Mahle Motorsport oder Heine+Beisswenger. Auch die Volkshochschule sowie das Chemische und Veterinäruntersuchungsamt Stuttgart befinden sich hier.
Der Waggon ist zum Bersten gefüllt
Vor dem eigentlich Test steht allerdings eine Generalprobe an, denn zunächst muss ich von meinem Wohnort nach Backnang gelangen. Um 6.44 Uhr steige ich deshalb in Schorndorf in den ebenfalls von Go-Ahead betriebenen MEX13 nach Stuttgart. Der kommt zwar pünktlich, allerdings nur mit einem Waggon, der sich aus Aalen über Schwäbisch Gmünd kommend bereits zum Bersten gefüllt hat. „Hätten wir doch Homeschooling gemacht“, klagt eine Schülerin neben mir, an ihre Freundinnen gewandt. Damit deutet sich bereits an, worin während des Streiks die größte Herausforderung für morgendliche Bahnpendler besteht, denn nicht alle am Bahnsteig finden Platz in dem völlig überfüllten Zug. Die in zunehmend rauem Ton geäußerten Appelle, die Innenstehenden mögen doch bitte durchgehen, helfen nichts: Ein Teil der Menschen bleibt zurück und das bei Temperaturen von minus fünf Grad. „Die Streikauswirkungen bei Go-Ahead Baden-Württemberg sind bisher relativ gering“, sagt eine Sprecherin des Unternehmens am späten Vormittag, ergänzt jedoch: „Die Züge sind teilweise im Berufsverkehr naturgemäß stärker ausgelastet.“
Ich habe indessen Glück gehabt: Stehend geht es für mich nach Waiblingen, wo ich in den deutlich leereren, aber immer noch gut besuchten RE90 nach Backnang umsteige. Pünktlich um 7.23 Uhr rolle ich dort ein, um endlich meine eigentliche Reise nach Fellbach zu beginnen.
Wie schon in Schorndorf ist auch in Backnang am Bahnsteig eine ganze Menge los. Einer der Wartenden ist Konstantinos Seretopoulos, der als Assistenzarzt am Klinikum Winnenden tätig und auf dem Weg zur Arbeit ist. „Es ist für mich die einzige Möglichkeit“, sagt der 33-Jährige, der kein Auto besitzt und daher auf den ÖPNV angewiesen ist. Trotz des Streiks ist er zuversichtlich, an diesem Tag ohne Probleme nach Winnenden und später zurück nach Hause zu gelangen. Ob er Verständnis für den Streik habe? „Ja“, antwortet der junge Mann knapp, aber entschieden.
Auf die Busse ist Verlass
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Heiterkeit macht sich kurz darauf breit, als um 7.42 Uhr mit fünfminütiger Verspätung der RE90 in Richtung Stuttgart eintrifft. „Das ist ja so eine alte Mühle“, entfährt es einer Frau hinter mir prustend. Tatsächlich löst der Anblick des alten TRI-Zugs Nostalgiegefühle aus, gleichwohl er für regelmäßige Pendler auch dieser Tage keineswegs ungewohnt ist.
Im Zuginneren streiken sowohl die Uhr als auch in einem Abteil die Heizung, aber immerhin: Er fährt. Ich ergattere einen Sitzplatz und finde mich neben Stefan Siegmund wieder. Der 52-Jährige ist auf dem Weg zur Arbeit beim Finanzamt in der Stuttgarter Stadtmitte und hat bereits einen längeren Weg hinter sich. „Ich komme immer aus Spiegelberg mit dem Auto und steige hier in den Zug“, erklärt er. Ausnahmsweise die ganze Strecke mit dem Pkw zurückzulegen sei für ihn kein Thema gewesen. „Die B14 und die B29 sind bei Bahnstreik und Bauernprotesten ja auch voll. Außerdem braucht man in Stuttgart einen Parkplatz, der viel Geld kostet.“ Im schlimmsten Fall wäre er eben wieder nach Hause gefahren und hätte im Homeoffice gearbeitet, zeigt Siegmund sich entspannt. Ohnehin habe er für den Streik grundsätzlich Verständnis. „Nur die Forderung nach einer 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich finde ich grenzwertig.“
Viele bleiben vermutlich im Homeoffice
In Winnenden steigen viele Passagiere zu, darunter eine ältere Dame. Siegmund reagiert schneller als ich und bietet ihr einen Sitzplatz an, den sie dankend annimmt. „Ich bin auf dem Weg zum Arzt in Waiblingen“, verrät sie und versichert sich noch einmal, dass der Zug dort auch hält.
Waiblingen erreichen wir mit einer sechsminütigen Verspätung, aber für meinen Umstieg auf den Bus habe ich zum Glück genügend Puffer. Die Linie 205 nach Schmiden steht zwar nicht wie in der App angekündigt an Bussteig vier, bringt mich durch das hübsche und winterliche Waiblinger Umland ansonsten aber pünktlich und ohne Gedränge zum Rathaus. Hier steige ich in die Linie 60 in Richtung Untertürkheim und erreiche schließlich um 8.37 Uhr, handgestoppte und zumutbare 55 Minuten nach Fahrtantritt, mein Ziel – übrigens vollkommen allein, denn zumindest um diese Uhrzeit scheint kein Stihl-Mitarbeiter dieselbe Verbindung gewählt zu haben. Das ist allerdings nicht überraschend. „Die Mitarbeitenden im Werk 8 sind überwiegend in den Bereichen Finanzen und IT tätig, Produktion befindet sich dort nicht vor Ort“, erklärt Sabrina Haufler. Soll heißen: Viele der Angestellten sind wohl im Homeoffice geblieben. Damit werden sie im Rems-Murr-Kreis während des Streiks nicht die Einzigen sein. Anders wäre das Pendleraufkommen für die Go-Ahead-Züge wohl auch kaum zu bewältigen.