Betroffenheit zum Holocaust-Gedenktag
Arbeitskreis „Erinnern und Gedenken“ hatte in die Friedhofkapelle in Backnang eingeladen
Die Backnanger Friedhofkapelle ist der geeignete Ort dafür. Der Arbeitskreis „Erinnern und Gedenken“ des Heimat- und Kunstvereins hat eingeladen. Etwa 100 Personen sind der Aufforderung gefolgt. Während seiner Amtszeit als Bundespräsident hat Roman Herzog seinerzeit den 27. Januar vorgeschlagen. Als Holocaustgedenktag.

© Pressefotografie Alexander Beche
Zwei Schülerinnen des Welzheimer Limes-Gymnasiums, Anna Lena Hinderer (rechts) und Amelie Jeck, sprechen eine Szene aus einem Theaterprojekt ihrer Schule. Foto: A. Becher
Von Hans-Christoph Werner
BACKNANG. An diesem Tag vor 74 Jahren erreichten die Truppen der Roten Armee das Konzentrations- und Vernichtungslager Ausschwitz und befreiten die letzten Gefangenen. Solches Gedenken Jahrzehnte danach muss freilich, wenn es nicht inhaltslos bleiben soll, gestaltet sein. Große Bildtafeln sind vorbereitet und hängen an den Wänden der Friedhofkapelle. Sie prägen den Raumeindruck. Collagen sind es zum Teil. Sie vereinen bekannte Bilder aus den Konzentrationslagern: die Verbrennungsöfen, Leichenberge Hingemeuchelter, blau-weiß gestreifte Häftlingskleidung, der unter Starkstrom stehende Stahldrahtzaun um die Lager. Das Unfassbare im Bild. Fast warnend die Begrüßungsworte von Roland Idler zu Beginn. Der Arbeitskreis habe ein Programm zusammengestellt, das nachdenklich stimmt. Und betont eines der fünf im Boden eingelassenen Worte: das Wort „widerstehen“. Am Schluss des Nachmittags schlägt er den Bogen zu der im Mai anstehenden Europawahl. Man hüte sich davor, Extremisten seine Stimme zu geben.
Zutiefst passend für die Gedenkstunde das von Johanna Vargas in drei Teilen gesungene „Lamento“. Nein, es sind keine Worte, die die Künstlerin singt, sondern nur Vokale. Und ihr Gesang ist zum Teil zum Verwechseln ähnlich einem Schmerzgeschrei. Ernst Hövelborn erinnert daran, wie alles zustande kam. Durch das sogenannte Ermächtigungsgesetz entstand ein rechtsfreier Raum. Alles war möglich. Gerade auch Willkür und Terror. Alles Mitgefühl und Mitleid wurde damit abgestellt. Eine Haltung, so ein Zitat des Philosophen Paul Feyerabend, die bis in unsere Zeit hinein immer wieder auftaucht. Auch medizinische Experimente waren in den Konzentrationslagern an der Tagesordnung. Ernst Hövelborn zitiert aus den Akten: Man rühmte sich dessen, ein kostengünstiges Verfahren zur Sterilisierung von Frauen erfunden zu haben. Ein anderer Philosoph, Wolfgang Sofsky, beschreibt die Exzesse der Gewalt. „Das Tötungsverbot der zivilen Gesellschaft war aufgehoben.“ Der Tod, so die berühmte Formulierung des Dichters Paul Celan, ist ein „Meister aus Deutschland.“ Ulrich Olpp trägt das Gedicht „Todesfuge“ eindringlich vor. Wie auch später das andere mit dem Titel „Flimmerbaum“ desselben Autors.
Zwei Schülerinnen des Welzheimer Limes-Gymnasiums sprechen eine Szene aus einem Theaterprojekt ihrer Schule. Nach dem Roman „Jugend ohne Gott“ von Ödön von Horvath ist diese konzipiert: Ein Schülervater beschwert sich lautstark und heftig bei einem Lehrer, der im Unterricht die Neger (so die Formulierung im Roman) Menschen genannt hat. Die Szene illustriert, was Ernst Hövelborn zuvor über das Abhandenkommen von Mitgefühl vorgetragen hat.
Stadtarchivar Bernhard Trefz hat im letzten Backnanger Jahrbuch das Schicksal der Backnanger Jüdin Herta Lehmann beschrieben. Aufgrund der zunehmenden Ausgrenzung, die auch ihren Ehemann Willy betraf, wusste sich Herta Lehmann keinen Ausweg. Verzweifelt nahm sie sich im Januar 1939 das Leben. Im Gedenken an sie wird eine Rose auf dem Altar der Friedhofkapelle abgelegt. Dann singt Johanna Vargas den dritten Teil des Lamentos. Sie durchschreitet dabei von den hinten kommenden den ganzen Raum der Kapelle. Am Altar angekommen steigert sich ihr schon immer klagend und weinend klingender Gesang noch einmal. Schmerzgekrümmt beugt sie sich nach vorne, stützt sich erst am Altar ab, geht dann vor der großen Bildtafel, die ausgemergelte KZ-Gefangene zeigt, auf die Knie. Der Gesang wird laut geäußertes Schmerzgeschrei. Eindrücklicher ist ein Gedenken musikalisch nicht zu gestalten. Obwohl von Roland Idler angeboten: den Zuhörern ist nicht danach, sich über das Gehörte zu unterhalten. Die Betroffenheit ist zu groß.