Was wusste André E. von den NSU-Machenschaften?
dpa Karlsruhe. Im Sommer hat der BGH das Urteil gegen Rechtsterroristin Beate Zschäpe bestätigt. Zum ersten Mal im NSU-Komplex verhandelt wurde dort aber erst jetzt. Geht ein Fall wieder zurück nach München?
Wie eng war das Verhältnis zwischen dem NSU-Trio und seinem Helfer André E.? Und wann wusste E., der zu den untergetauchten Rechtsterroristen immer Kontakt hatte, über deren mörderische Absichten Bescheid? Im Münchner Prozess kam der heute 42-Jährige mit milden zweieinhalb Jahren Haft davon, jetzt überprüft der Bundesgerichtshof (BGH) seine Verurteilung wegen Unterstützung einer Terrorvereinigung (Az. 3 StR 441/20). Am Donnerstag wurde in Karlsruhe verhandelt, das erste und absehbar einzige Mal im Komplex um den „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU). Ihr Urteil wollen die obersten Strafrichter am 15. Dezember verkünden.
Gedeckt und angeleitet von Beate Zschäpe waren Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt über Jahre mordend durch das Land gezogen. Ihre Opfer waren neun Gewerbetreibende türkischer und griechischer Herkunft und eine deutsche Polizistin. Außerdem hatten die NSU-Terroristen zwei Bombenanschläge in Köln mit Dutzenden Verletzten verübt.
Zschäpe, die einzige Überlebende des Trios, hatte das Oberlandesgericht (OLG) München am 11. Juli 2018 als Mittäterin an den NSU-Morden zu lebenslanger Haft verurteilt und die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Die Urteile gegen sie und drei andere NSU-Helfer sind rechtskräftig. Beim Bundesverfassungsgericht ist noch eine Verfassungsbeschwerde Zschäpes anhängig.
Gegen André E. hatten die Münchner Richter eine überraschend milde Strafe verhängt. Der überzeugte Nationalsozialist kam direkt aus der Untersuchungshaft frei - zum Entsetzen von Opfer-Angehörigen. Bis ein rechtskräftiges Urteil vorliegt, bleibt er auch auf freiem Fuß.
Die Bundesanwaltschaft hatte eine viel höhere Strafe gefordert: zwölf Jahre Haft, unter anderem wegen Beihilfe zum versuchten Mord. Denn E. hatte ein Wohnmobil angemietet, mit dem die Täter im Jahr 2000 für einen der Anschläge nach Köln fuhren. Bundesanwalt Jochen Weingarten sagte vor dem BGH, E. habe die NSU-Mitglieder jahrelang gekannt. Die Argumentation des OLG, wonach er erst zu einem späten Zeitpunkt von den Mord- und Anschlagsplänen erfuhr, sei nicht plausibel nachvollziehbar - sondern widersprüchlich und rechtsfehlerhaft. Er sprach von „haltlosen Annahmen zugunsten des Angeklagten“.
Die OLG-Richter hatten E. dafür verurteilt, dass er dem NSU-Trio 2009, 2010 und 2011 Bahncards organisiert hatte, die auf ihn und seine Frau ausgestellt waren - dazu nutzte er Fotos von Böhnhardt und Zschäpe. Damals soll er schon gewusst haben, dass sich die beiden und Mundlos mit mörderischen Absichten zusammengeschlossen hatten.
E. selbst fordert auch in diesem Punkt einen Freispruch. Sein Verteidiger argumentierte, solche Bahncards seien entgegen der Meinung der Anklage keine „Behelfsidentitätsnachweise“. Eine Bahncard alleine reiche nicht, man brauche auch etwa einen Personalausweis.
Schon 2000 und 2003 hatte E. Wohnmobile angemietet, die der NSU bei zwei Raubüberfällen und dem Anschlag in Köln benutzte. Außerdem gab er Zschäpe 2007 den Ausweis seiner Frau, damit sie sich bei einer Zeugenvernehmung bei der Polizei mit falschen Personalien vorstellen konnte. Er begleitete sie auch zu dem Termin. Aus Sicht der Münchner Richter wurde er erst nach diesem Vertrauensbeweis voll in die Pläne der Terroristen eingeweiht. Seine Unterstützung in den Fällen vorher reichte ihnen daher nicht für eine Verurteilung wegen Beihilfe.
Ob die Argumentation hier schlüssig ist, dürfte Kern der Überprüfung sein. Kannte E. schon früher das „Tatkonzept“, fragte Bundesanwalt Ralf Wehowsky - oder „war er nur ein ahnungsloser, naiver Bekannter?“ Einen Vorsatz nachzuweisen, ist schwierig: E. hatte während des gesamten Prozesses in München geschwiegen. Zschäpe sagte nur aus, dass ihm das Trio nach der Vernehmung bei der Polizei von den Raubüberfällen erzählt habe. Laut Wehowsky gibt es keine Zeugen, keine Aufzeichnungen der Telekommunikation oder von Observationen.
Nebenklage-Anwältin Edith Lunnebach, die Opfer des Kölner Anschlags vertritt, sagte: Die Idee, dass E. als einer der engsten Vertrauten des NSU keine Kenntnis von dessen Plänen gehabt haben soll, sei „lebensfremd“. Es bleibe ein „schaler Geschmack der Ungerechtigkeit“.
Vor der Verhandlung protestierte eine kleine Gruppe vor dem BGH „gegen Naziterror und Staatswillkür“. Über Lautsprecherdurchsagen forderte sie die „bedingungslose Aufklärung“ der Hintergründe, die den Rechtsterroristen ihre Mordserie ermöglicht hatten. Auch nach dem ursprünglichen Urteil gab es Kritik, dass weder das Münchner Verfahren noch diverse Untersuchungsausschüsse zum NSU im Bundestag und mehreren Landtagen alle Zusammenhänge aufdecken konnten. Vermutet wird unter anderem, dass das NSU-Trio noch mehr Helfer hatte.
Die offenen Fragen wird allerdings auch das BGH-Verfahren nicht klären können: Der dritte Strafsenat prüft das Urteil nur auf Rechtsfehler wie Widersprüche und Lücken. „Wir bewerten die Beweise nicht selbst“, erläuterte der Vorsitzende Richter Jürgen Schäfer.
Der BGH kann das OLG-Urteil dann bestätigen, selbstständig abändern oder aufheben. Im letzten Fall müsste in München neu über strittige Teile verhandelt werden. Das werde nicht wie beim ersten Verfahren fünf Jahre dauern, sagte Anwältin Lunnebach. „Aber die drei, vier Monate, die's dauern würde, nehme ich gerne auf mich.“
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