Dankbar für die Ermutiger am Wegesrand
Mutmacher-Geschichten Helga Gauder-Beuttler leitet in Kursen Menschen dazu an, mit Biografiearbeit ihren eigenen Schätzen im Leben auf die Spur zu kommen. Eine Methode zur Bewältigung von Schicksalen sieht sie darin nicht, aber ein Mittel, um die eigenen Ressourcen zu nutzen.
Backnang. In den vergangenen Monaten hat die Serie Mutmacher-Geschichten Menschen vorgestellt, die ihr Glück gefunden, schwierige Situationen gemeistert, Träume verwirklicht haben. Jeder hat seine Art gefunden, mit Zeiten, die nicht gut für ihn waren, umzugehen. Zum Abschluss macht Helga Gauder-Beuttler Mut: Jeder hat Schätze in seinem Leben. Es gilt, sie in der eigenen Biografie als solche zu erkennen.
Die Menschen, die wir vorgestellt haben, haben Dinge erlebt, die nicht leicht zu bewältigen waren, bei denen andere hadern oder verzweifeln würden. Die Leute in unserer Serie haben das eben nicht getan. Sie sind ihren Weg gegangen. Ist das erklärbar mit Biografiearbeit? Ist da etwas Verbindendes, das diese Menschen haben?
Ich weiß nicht, ob es taugt, die Biografiearbeit da draufzulegen. Wenn jemand ein Lebensschicksal hat oder einen schweren Schicksalsschlag erlebt, kommen immer verschiedene Faktoren zusammen, damit eine positive Entwicklung daraus entstehen kann: ein stabiles Umfeld, Beziehungen, Menschen, die einen ermutigen, Lebensumstände, die Möglichkeiten schaffen. Man muss Respekt haben vor der Lebensleistung, die diese Menschen erbringen. Dafür kann man sie nur bewundern. Denn es gibt genauso viele Menschen, die mit Lebensschicksalen nicht durchgekommen sind oder immer noch schwer daran tragen. Es ist mir zu eng, zu einfach zu sagen, eine Methode würde helfen. Das ist Biografiearbeit nicht. Aber sie ist ein Instrument, um den eigenen Lebensweg zu gehen, sodass man die Schätze in der eigenen Biografie finden kann.
Was genau macht Biografiearbeit aus?
Es ist ein Coaching-Instrument, ein ressourcenorientierter Blick zurück in die Vergangenheit, der hilft, die Gegenwart zu bewältigen und dabei gleichzeitig Chancen zu erkennen, wie sich der Zukunft Gestalt geben lässt. Zum Beispiel bei der Berufsorientierung oder bei Unzufriedenheit im Beruf. Man geht in die Vergangenheit zurück und guckt: Was habe ich eigentlich immer gerne gemacht? Wobei ist mir immer das Herz höher geschlagen? Wo findet das im Moment in meinem Beruf statt? Was müsste sich ändern, dass dieser Part meines Lebens mehr Raum in der Zukunft hat? Biografiearbeit geht immer in die Vergangenheit, betrachtet die Gegenwart und versucht dann, für die Zukunft Konzepte zu entwickeln. Sie ist eine Methode, für die man Zeit braucht. Zwei Stunden sind schon nötig, um ein Gefühl dafür zu bekommen, unter einem bestimmten Themenaspekt die eigene Biografie zu betrachten.
Wie geht das?
Biografiearbeit ist keine Technik, die ich aus dem Automat ziehe. Es ist eine Anleitung, in einen Prozess hineinzukommen. Zum Beispiel: Die Pandemie verändert mich gerade. Ich frage: Was ist wirklich wichtig? Worauf setze ich? Was hilft mir? Was tut mir gut? Daraufhin habe ich die Idee gehabt, ein neues Konzept über „Ich und mein Grün“ zu erstellen, meine Geschichte unter diesem Aspekt zu betrachten: Habe ich einen grünen Daumen? Wo hat das angefangen? Wie erlebe ich Grün heute? Liebe ich die Natur? Finde ich Ausgleich in der Gartenarbeit? Was bräuchte ich, dass das, was ich schon immer in mir schlummernd habe, in Zukunft meinem Leben Gestalt gibt?
Das setzt voraus, dass man sich hinsetzt und über sich selbst nachdenkt.
Diejenigen, die Biografiearbeit betreiben, sind in der Regel erstens sehr aufgeschlossen und zweitens auch selbstreflexiv. Das ist eine Haltung, die sich entwickelt, weil ich den Mut habe, zurück auf mein Leben zu gucken, jetzt in der Gegenwart genau hinzuschauen und zu überlegen: Was müsste sich ändern? Es ist die Lust an der eigenen Biografie und die Lust, das mitzuteilen, also in der Auseinandersetzung und im Erzählen mit anderen. Nach dem Austausch kommt ein Punkt, an dem man das Ausgetauschte für sich verdichtet, das Eigene schärft.
Das heißt, dass die Teilnehmer bei Ihren Seminaren zur Biografiearbeit viel von sich preisgeben?
Für mich ist immer wichtig zu sagen, dass die Aktion freiwillig ist. Sie muss in einer großen Freiheit ablaufen, damit sich keiner gedrängt fühlt. Ich erlebe immer wieder, dass Menschen Angst haben, etwas Falsches zu sagen oder zu machen. Aber das ist völlig außerhalb der Haltung in der Biografiearbeit. Jeder, der nachdenkt über sich, ist richtig. Jeder, der etwas darüber sagt, ist richtig. Ich habe recherchiert bei Hubert Klingenberger, das ist so der Vater der Biografiearbeit. Er geht so weit zu sagen, dass mit Biografiearbeit, wenn sie richtig gemacht wird, Heilung und Lebensermutigung passieren kann. Insofern stimmt es, dass das Konzept Ihrer Serie mit den Lebensgeschichten ein Beitrag zur Lebensermutigung sein kann. Für mich als Biografiearbeiterin wäre interessant zu wissen: Was genau hat die Menschen ermutigt? Wie kommen sie zu dem Schritt? Wer war da? Wer hat geholfen, getröstet, ermutigt, begleitet, nicht aufgehört?
Für diese Anleitung zur Selbstreflexion verwenden Sie verschiedene Mittel. Im VHS-Programm steht zum Beispiel, dass die Seminarteilnehmer Wachsmalkreiden mitbringen sollen.
Es ist ein ganzer Methodenstrauß möglich. Dabei kommt es immer darauf an, mit wie vielen Leuten ich arbeite und wie alt sie sind. Was immer geht, ist Schreiben. Und es geht immer darum, Schätze zu entdecken.
Was passiert, wenn man den Schatz gefunden hat?
Dann freuen sich die Leute erst einmal. Das ist schon ein großes Ding, das zu finden. Das, was ich für mich aus meiner Biografie herausgezogen habe, nimmt mir keiner, es ist meins. Ich habe zum Beispiel mal eine Geschichte zum Thema „Was ich einmal gelernt habe“ geschrieben. Ich habe aufgeschrieben, wie ich Gitarrespielen gelernt habe und was das für mich bedeutet hat. Diese Geschichte ist für mich ein Schatz. Oder das Thema „Ein seltsamer Verwandter“. Rund um den Umgang mit der Seltsamkeit können sich auch Geschichten ergeben, bei denen man auf einmal merkt: Da habe ich etwas zu erzählen, das ist ein Schatz. Diese Erkenntnis kann wirklich ein Glücksgefühl erzeugen.
Wie sind Sie darauf gekommen, Biografiearbeit zu betreiben?
Ich habe in Nürnberg studiert und in der Erwachsenenbildung gearbeitet. In diesem Bereich haben die Beteiligten vor 15 Jahren schon Biografiearbeit gemacht. Ich dachte, das ist spannend und habe auch mitgemacht. Aber ich habe gemerkt, mit Ende dreißig, Anfang vierzig, ist man noch auf einem anderen Trichter. Da muss man das Leben noch entfalten und guckt noch nicht so zurück. Dann hatte ich die fünf davor, und habe gemerkt: jetzt. Ich habe die Ausbildung zur Biografiearbeiterin absolviert, was wirklich toll war. Mittlerweile habe ich schon viel mit Frauen gearbeitet, hier in der Kirchengemeinde mit unterschiedlichen Altersgruppen. Nach dem langen Lockdown bin ich mit meiner Abschlussklasse an der Schule mit Biografiearbeit reingegangen. Ich wollte den Schülern etwas anbieten, das ihnen guttut, das sie stärkt. Zu fragen: Wo sind eure Stärken? Das war mir wichtig.
Biografiearbeit mit Kindern oder Jugendlichen ist wahrscheinlich sehr verschieden zu jener mit älteren Menschen?
Eigentlich nicht. Die einen lassen sich darauf ein und finden es gut, die anderen weniger. In der Schule besteht nicht so ein Freiwilligkeitsrahmen, die Schüler melden sich ja nicht an. Im Netzwerk haben wir jetzt eine AG Jugendarbeit gegründet, weil viele Netzwerker auch in der Jugendhilfe arbeiten und Biografiearbeit nutzen, damit Jugendliche ihre eigenen Quellen entdecken.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Ich habe eine Schülerin gehabt aus dem Iran, ihre Familie ist geflohen. Als sie in der fünften Klasse einmal erzählen durfte, wie man im Iran als Christ Weihnachten feiert, hat sie geleuchtet und gestrahlt. Selbst so etwas Kleines, wenn ein Kind aus einem anderen Kulturkreis bei uns ankommt und erzählen darf, wie es bei ihm ist, kann ein Schatz sein. Die anderen haben alle zugehört. Da war es mucksmäuschenstill. Dem Mädchen diese Plattform zu geben, das hat ihr schon geholfen, hier bei uns anzukommen. Biografiearbeit mit dem Ziel einzusetzen, junge Menschen auf ihre Ressourcen hin zu verorten, damit sie selbst auf ihre Kraftquellen kommen, finde ich gerade ein spannendes Thema, weil wir in der Pandemie sind und es mich sehr beschäftigt: Wie kann man Kindern auch durch diese Coronazeit Kraft geben und begleiten, dass sie selbst merken und spüren, was sie brauchen, damit es ihnen gut geht.
Das heißt, Biografiearbeit kann in Zeiten, in denen es einem nicht gut geht, helfen, den Mut nicht zu verlieren?
Das ist eine schwierige Frage. Es muss jeder seinen eigenen Weg finden. Ich habe zum Beispiel, als die Pandemie anfing, das Buch von Anselm Grün „Quarantäne“ in einem Zug durchgelesen, und dachte, dass der Mann recht hat. Da hat man einen kleinen Raum und in dem kleinen Raum muss man sich kleine Ziele setzen. Ich dachte: Was sind jetzt kleine Ziele? Ich darf mich nicht mehr treffen, ich darf meinem Hobby nicht mehr nachgehen. Dann habe ich angefangen, mich regelmäßig mit Freundinnen zum Spaziergang zu treffen. Das sind kleine Ziele. Ich denke, Vernetzung hilft in Krisensituationen, das Miteinander-Sein. Das ist keine biografische Angelegenheit, sondern eher eine Lebenshaltung. Man darf sich nicht abschotten. Was hilft Leuten, in Krisen gut durchzukommen? Es sind immer auch Menschen, Ermutiger, am Wegesrand.
Wären wir damit bei der Dankbarkeit und dass sie ein unterschätztes Gefühl ist? Dass man erkennt, wenn man Menschen am Wegesrand hat, und dass sie wichtig sind?
Genau. Mein Konzept der Dankbarkeit stammt aus der Zeit vor Corona. Ich hatte das Gefühl, jeder hastet durchs Leben und eilt und ist im ganzen Eilen eigentlich unzufrieden. Da mal ausbremsen und gucken: Was läuft gut in meinem Leben? Wofür bin ich dankbar? Das hat Corona geschafft, dass viele ausgebremst wurden, und auf einmal Zeit hatten zu überlegen: Was finde ich wichtig? Das ist auch eine Lebenshaltung. Kann ich dankbar auf etwas zurückblicken? Habe ich Schätze gefunden oder überwiegt die Undankbarkeit, die Unzufriedenheit? Ich finde es spannend, dem Gefühl ein Gesicht zu geben und dank der gefundenen Schätze eine Haltungsveränderung hinzubekommen. Die Dankbarkeit ist jetzt ein Gefühl, mit dem wir leben können, weil wir mit Corona gemerkt haben, wie reich wir an Beziehungen sind. Ich rede nicht über wirtschaftliche Folgen oder Existenzängste. Wenn Menschen das Wasser bis zum Hals steht, dann ist nichts mehr mit Dankbarkeit. Aber das stärkere Gefühl der Dankbarkeit für das, was wieder geht, glaube ich schon, dass das mehr um sich greift.
Das Gespräch führte Nicola Scharpf.
Helga Gauder-Beuttler ist 53 Jahre alt und in der Nähe von Ulm geboren. Sie ist verheiratet mit Ulrich Beuttler, Pfarrer in der evangelischen Markuskirchengemeinde, und lebt seit sieben Jahren in Backnang. Sie ist diplomierte Religionspädagogin. Unter anderem unterrichtet sie evangelische Religionslehre an einer Realschule in Schorndorf.
Ausbildung Vor etwa drei Jahren hat sie sich zur Biografiearbeiterin ausbilden lassen und sich dem Netzwerk Lebensmutig e.V., das ist die Gesellschaft für Biografiearbeit, angeschlossen.
Einen Kurs zur Biografiearbeit bietet sie im Herbst an der Volkshochschule Backnang an. Jeder der drei Abende (donnerstags 21. und 28. Oktober sowie 11. November, 18.30 bis 20.15 Uhr) steht unter einem besonderen Thema. Die Abende sind in sich abgeschlossen und können einzeln, aber auch als Gesamtpaket gebucht werden. Am ersten Abend geht es um Lieblingsorte, am zweiten um das Alltagsglück. Der dritte Abend gehört dem unterschätzten Gefühl der Dankbarkeit.