Ein Leben jenseits der Konventionen

Mutmacher-Geschichten: Ellen Kuhn und Joachim Materna haben Überdruss, Erschöpfung, Alltagsfrust hinter sich gelassen. Die beiden haben eine Lebensform gefunden, die ihnen entspricht. Sie sind Nomaden, Kosmopoliten, selbstständige Unternehmer.

Barbados statt Backnang: Im Moment leben Joachim Materna und Ellen Kuhn dort ihren Alltag. Die beiden empfinden es als Privileg, an den schönsten Orten der Welt sein zu dürfen. Foto: privat

Barbados statt Backnang: Im Moment leben Joachim Materna und Ellen Kuhn dort ihren Alltag. Die beiden empfinden es als Privileg, an den schönsten Orten der Welt sein zu dürfen. Foto: privat

Von Nicola Scharpf

BACKNANG. „Viele Menschen suchen nach der Schublade, in die sie uns stecken können“, sagt Ellen Kuhn. Früher, in ihrem alten Leben, haben Ellen Kuhn und Joachim Materna wunderbar in eine Schublade gepasst: erfolgreich in ihren Berufen, eng getaktet in ihren Alltagen, sogar in ihrer Freizeit ständig unter Strom, im Dauerstress hochtourig am Rand der Erschöpfung. In dieser Schublade, so darf man wohl getrost behaupten, tummeln sich viele, viele Zeitgenossen. Ellen Kuhn und Joachim Materna findet man dort nicht mehr. „Erschöpfung und Überdruss, Anfälligkeiten gegenüber vielem, zum Beispiel Infekten, waren mit eine Haupttriebfeder“, sagt Joachim Materna. Eine Haupttriebfeder, das Leben in seinen Grundfesten zu verändern, alles hinter sich zu lassen. Kuhn und Materna sind keine Aussteiger. Sie sind auch keine Auswanderer. „Wir sind Wandernde im Leben, Suchende und immer wieder Ankommende“, sagt Kuhn. „Wir haben eine unglaubliche Vielfalt in uns, die wir ausleben. Das zieht sich durch unsere Reiseaktivität und durch unsere berufliche Aktivität.“

Vor neun Jahren lernen sich die Leutenbacherin Kuhn, nach dem BWL-Studium damals mit Mitte zwanzig Managerin im Bereich Gesellschaftliche Verantwortung in einem internationalen Konzern, und der Backnanger Materna, angesehener, niedergelassener Internist, in einem Backnanger Fitnessstudio kennen. Sie werden ein Paar. Sie brechen zu einer mehrmonatigen Weltreise auf. Noch bevor sie ins Flugzeug steigen, wissen sie, dass sie nicht in ihr altes Leben zurückkehren werden, dass sie auf Renommee, Prestige, ihre gut dotierten Jobs verzichten werden. Über diese Reise ist 2015 ihr gemeinsamer, stark autobiografisch geprägter Roman „Keine Angst vorm Fliegen“ erschienen. Kuhn und Materna bloggen, fotografieren, schreiben. Sie ziehen ihr eigenes Unternehmen „Weltreisetraum“ hoch, bei dem sie handverlesenen Kunden individuelle Weltreisen kreieren.

Wer die Backnanger Festnetznummer des Weltreisetraums wählt, kommt irgendwo auf der Welt heraus – eben dort, wo Kuhn und Materna sich gerade befinden, wo sie temporär leben und von wo sie arbeiten: Bali, Buenos Aires, Kapstadt, Hawaii, Australien, Oman – und aktuell Barbados. Kuhn und Materna bezeichnen sich als Kosmopoliten, als digitale Nomaden, die ein paar Monate hier, ein paar Monate dort sind. Sie planen zirka ein Jahr im Voraus, teilen es in drei bis vier Abschnitte und überlegen, wo sie diese Zeit gerne verbringen möchten. „Heimat ist kein Ort, sondern ein Gefühl“, schildert Kuhn. „Wir haben unsere Heimat ineinander gefunden.“ Backnang ist weiterhin ein wichtiger Bezugspunkt, hier sind sie „fest verwurzelt“, so Materna. Sie haben hier Freunde, Verwandte, eine Wohnung, ihre Hausbank.

„Das Loslassen von Aspekten des normalen Lebens fiel nicht schwer.“

Kuhn und Materna trennen zwar über 30 Lebensjahre. Materna: „Das Leben ist bei jedem ein Prozess, der künstlich eingeteilt wird durch Zahlen wie Schuleintritt und runde Geburtstage. Diese Zahlen bestimmen das Leben von vielen.“ Vom Wesen her, sagen die beiden, ähneln sie sich. Sie tragen den Impuls in sich, Dinge auszuprobieren, neugierig zu sein. Sie haben die Fähigkeit, schnell anzukommen und sich Strukturen zu schaffen. „Wir sind ehrgeizig, perfektionistisch, selbst beobachtend. Unser Problem ist, dass uns niemand bremst“, sagt Ellen Kuhn und lacht. In den neun Jahren, die sie sich kennen, sei ihnen keine Sekunde langweilig gewesen. „Wir können uns die Köpfe heißreden“, so Materna. „Das ist Reisen im Denken. Wir entdecken dabei neue Dimensionen. Unser Denken war und ist unkonventionell. Diese Basis war schon vorher da. Das Loslassen von vielen Aspekten des normalen Lebens fiel uns deshalb nicht sonderlich schwer.“

Durch das Aufbrechen von Normen und Konventionen werden Kuhn und Materna mitunter auch zur Inspiration für andere Menschen. „Frustrierte Menschen begegnen uns immer wieder oder sie kontaktieren uns. Wir sind im Dunstkreis von Menschen, die bereit sind, ihr Leben zu verändern“, sagt Kuhn. „Es ergeben sich Situationen, die einem Coaching ähneln.“ Materna ergänzt: „Man steht sich so oft im Wege mit seinem vorgefertigten Lebenskonzept, mit Konventionen, die das eigene Lebensglück verhindern.“ Dabei betrachtet es das Paar differenziert, wenn andere Menschen ihrer beider Leben als Projektionsfläche für die eigenen, heimlichen Sehnsüchte nutzen: „Unser Leben ist nicht Urlaub, sondern Alltag mit allem, was dazugehört. Manchmal spricht man uns Probleme ab, denn wir sind ja im Paradies. Aber das Leben bleibt ein Auf und Ab, es gibt immer Verwerfungen.“ Ein Prozess wie der ihrige sei nicht nur angenehm, er tue auch weh. Beim Verlassen eines vorgezeichneten Lebensweges durchlebe man Zweifel, Sorgen und Ängste. Nichts von dem, was sie erreicht hätten, sei ihnen in den Schoß gefallen. Kuhn: „Wer ein eigenes Unternehmen gegründet hat, weiß, wie viel Arbeit das ist. Es gab knallharte Phasen, das muss man durchhalten.“

Umso stärker nehmen sie jetzt ihre Unabhängigkeiten und Freiheiten wahr und genießen sie. Bei den Mahlzeiten und nachts praktizieren sie Digital Detox. „Wir erlauben uns, diese Grenze zu ziehen.“ In ihrem Business stellen sie zwar den Kunden in den Mittelpunkt, aber sie schränken ihre Lebensqualität nicht zugunsten eines Kunden ein. „Wir nehmen auch nur Kunden an, mit denen wir in einer Art Flow sind.“ Kuhn und Materna sehen die „extrem vielen Privilegien“, die sie haben, die sie nicht für selbstverständlich nehmen, die sie mit Dankbarkeit erfüllen. „Wir lieben die stabile Hitze der Tropen und das Strandsurrounding. Es lässt uns aufblühen“, schwärmt Kuhn. „Wir sind an den schönsten Spots, wo sich Expats und Aussteiger sammeln mit Kreativität und neuen Lebenskonzepten.“ Auf Barbados wohnen sie derzeit in einem kleinen Cottage, in der Mittagspause oder nach Feierabend gehen sie an den Strand. Vor Kurzem haben sie tatsächlich, ganz klischeebehaftet, den ersten Cocktail ihres mittlerweile acht Jahre währenden neuen Lebens im Sand sitzend beim Sonnenuntergang genossen. Über die zurückliegenden acht Jahre sagen sie: „Sie waren gigantisch gut.“

Das liegt nicht daran, dass sie glauben, ein besseres Leben zu führen. „Das Leben, das wir jetzt führen, ist eines, in dem wir im Außen leben, was im Innen schon immer da war. Eigentlich leben wir jetzt so, wie es uns wirklich im Kern entspricht. Gleichzeitig bleiben wir immer Werdende.“ Kuhn und Materna stellen sich grundsätzlich gerne Fragen und überprüfen in einem fortlaufenden Prozess Antworten auf Fragen, zum Beispiel nach dem Sinn: Was will ich? Was erwarte ich vom Leben? Eine Erkenntnis haben sie aus dem Sprichwort gezogen: Egal wo man hingeht, man nimmt sich immer selbst mit.

In der Serie Mutmacher-Geschichten berichten wir über Menschen, die ihr Glück gefunden haben, die schwierige Situationen gemeistert und ihre Träume verwirklicht haben. Damit setzen wir einen Gegenpol zu all den negativen Nachrichten, die jeden Tag in der Zeitung stehen.

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Erstellt:
3. Juli 2021, 06:00 Uhr

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