Das Leben danach
Brand in der Geißstraße mit sieben Toten jährt sich – Gedenkort lebendiger denn je
Spuren - Es war der schlimmste Brand in Stuttgart seit dem Zweiten Weltkrieg: Vor 25 Jahren starben sieben Menschen in einem überbelegten Haus an der Geißstraße. Aus den Trümmern erwuchs ein neuer Geist. Doch viele Fragen bleiben offen.
Stuttgart Josh von Staudach musste nicht lange nachdenken, als er die Liste in Händen hielt. 25 „herausragende Orte“ hat das Standesamt darauf vermerkt, darunter die Wilhelma, den Fernsehturm, Schloss Solitude. Alle drei stehen zwar für das schöne Stuttgart, sind aber weit draußen. Von Staudach und seine Frau Gabi Fulir suchten einen zentralen Ort zum Ja-Sagen. „Als wir die Stiftung Geißstraße in der Aufzählung entdeckten, wussten wir, dass wir dort heiraten wollten.“ Erstens kenne er den Stiftungsvorstand Michael Kienzle. Zweitens „finden wir toll, was die Stiftung macht“. Drittens freue er sich, dass aus der Katastrophe etwas Positives entstanden ist.
Am 16. März 1994 tobte in dem mittlerweile schmuck hergerichteten Haus an der Geißstraße 7 der schlimmste Brand in der Stuttgarter Stadtgeschichte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Sieben Menschen starben. Als Feuerwehr und Rettungsdienste um 3.36 Uhr eintrafen, glich das Treppenhaus einer Fackel. In den oberen Stockwerken drängten sich unzählige Menschen an den Fenstern. Sie riefen um Hilfe. 20 bis 30 Personen waren aufs Dach geflüchtet.
„Eine 57 Jahre alte Frau sprang, vermutlich in Panik, neben das Sprungkissen“, notierte Reporter Jürgen Schaefer in der Brandnacht. Später stellte sich heraus, dass die Frau nach ihrem Sprung aus dem Fenster mit dem Kopf gegen eine Straßenlaterne geprallt war, deswegen die Flugbahn änderte und neben dem Sprungtuch der Feuerwehr landete.
Die Bilanz war verheerend – in Zahlen, mehr noch in Schicksalen. Oberbürgermeister Manfred Rommel sprach von einer „fürchterlichen Katastrophe“. Ministerpräsident Erwin Teufel war „schockiert über die vielen Todesopfer“. Es starben, neben der Frau aus dem früheren Jugoslawien, eine 24-jährige Deutsche und ihre zweijährige Tochter, ein Ehepaar aus Kroatien, sie 55, er 60 Jahre alt, sowie eine 27-jährige Türkin mit ihrer vierjährigen Tochter. Am Tag nach dem Brand muss der Polizist Michael Kühner zudem mitteilen, dass die junge Türkin schwanger war.
Ein Vierteljahrhundert später sagt Kühner, inzwischen 71 Jahre alt und im Ruhestand, dass die erste Begehung um 6 Uhr morgens selbst für altgediente Polizisten erschütternd gewesen sei. „Wir wussten nicht, wie viele Leute in dem Haus waren“, erzählt der damalige Chef der 50-köpfigen Sonderkommission. Polizeilich gemeldet waren 27 Personen, „aber uns war schnell klar, dass viel mehr Leute dort gewesen sein mussten. In dem Haus hat die ganze Welt gewohnt“.
Tatsächlich dürften es gut 50 Personen aus zig Nationen gewesen sein. „Wir kannten die Leute. Das waren unsere Nachbarn – und arme Hunde“, sagt Rolf Hacker, der seit 1978 ein Wirtschaftsprüfer- und Steuerberatungsbüro an der Geißstraße führt. Obwohl die Feuerwehr bereits wenige Minuten nach der Alarmierung eingetroffen sei, habe sie wegen falsch parkender Autos Mühe gehabt, zum Tatort vorzudringen, erinnert sich der 74-Jährige. Ein Skandal bis heute.
Das Quartier am Hans-im-Glück-Brunnen war damals – im Gegensatz zu heute – keine gute Gegend. Eine schlechte Ausgangslage für das Marc O’Polo, das im Erdgeschoss der Geißstraße 7 auf Gäste wartete. Trotzdem verlangte der Eigentümer Stuttgarter Hofbräu vom Wirt eine hohe Pacht. Insider erinnern sich an 16 000 Mark im Monat, der Pächter soll von 29 000 gesprochen haben.
Hofbräu-Chef Peter May verwahrte sich zeitlebens gegen den Vorwurf des Wuchers. Bei der Aktionärsversammlung, die 1994 wenige Wochen nach dem Brand stattfand, betonte er: „Unsere Pachten sind nicht überhöht!“ Später überließ die Hofbräu AG das ausgebrannte Haus der neu gegründeten Stiftung Geißstraße. May wurde zu einem leidenschaftlichen Mitglied.
Die Ermittlungen hatten ergeben, dass der Pächter, ein Kroate, die acht Wohnungen in den oberen Geschossen an einen Landsmann weitervermietet hatte. Dieser wiederum war direkt am Markt für bedürftige Flüchtlinge aktiv. Ein Zimmer im Dachgeschoss mit 14,4 Quadratmetern Wohnfläche, ohne Heizung und fließendes Wasser, soll 400 Mark gekostet haben. Angemessen wären laut Vergleichsmiete 124,80 Mark gewesen. Drei Jahre später wurden Pächter und Subpächter zu Geldstrafen verurteilt.
Zufällig spürte die Polizei den Brandstifter auf. 1995 fassten Beamte einen 25-Jährigen, der in Esslingen eine Brandserie entfacht haben soll. Im Zuge der Ermittlungen sei der Verdacht aufgekommen, der „Beschuldigte könne auch für den Brand des Wohnhauses Geißstraße 7 in Stuttgart verantwortlich sein“, teilte die Staatsanwaltschaft im Juli 1995 mit. Der gebürtige Schwarzwälder habe „nach anfänglichem Zögern eingeräumt, auch diesen Brand gelegt zu haben, dies jedoch später widerrufen“. In einem Indizienprozess wurde der Mann zu 15 Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt.
Bis heute ist unklar, warum er das Haus anzündete. Sicher ist nur, „dass wir am Tatort keinen Brandbeschleuniger und kein Bekennerschreiben gefunden haben“, sagt Soko-Chef Michael Kühner. Mittlerweile gehe man davon aus, dass der Mann durch die unverschlossene Tür ins Treppenhaus gelangt sei. Dort habe er Pappkartons und Baumaterial angezündet, das wegen einer Renovierung des Hauses im Treppenhaus gestanden hatte. Weil das Treppenhaus mit der darin eingebauten Holztreppe wie ein Kamin gewirkt habe, habe das Feuer rasch seine verheerende Wirkung entfaltet.
Wenige Stunden nach dem Brand sei die Frage aufgekommen, ob ein rechtsextremistischer Hintergrund vorliege, sagt Kühner. Anfang der 1990er Jahre hatte es in Mölln, Rostock-Lichtenhagen und Solingen Anschläge auf Flüchtlingswohnheime gegeben. „Auch wir konnten damals einen fremdenfeindlichen Hintergrund nicht ausschließen“, sagt Kühner, „aber wir hatten auch keine Hinweise darauf.“ 25 Jahre später meine er, dass es keine ausländerfeindliche Tat gewesen sei.
Der ehemalige Asylpfarrer Werner Baumgarten dürfte das kritisch sehen. Aus gesundheitlichen Gründen will der pensionierte Geistliche kein Interview mehr geben. In einer Mail verweist er auf Predigten von früher. Am zehnten Jahrestag berichtete er im Gottesdienst, vor allem jener Mann, der seine schwangere Frau und seine vierjährige Tochter verlor, habe ihn „über ein langes Jahrzehnt“ regelmäßig aufgesucht. Weder beruflich noch privat habe dieses Hauptopfer sein Leben danach auf die Reihe gebracht. Der Geistliche beklagte damals, dass der Mann in Stammheim einsitze und der Antrag auf Haftverschonung für den Besuch des Gottesdienstes zum zehnten Jahrestag abgelehnt worden sei. Daher müsse sich die Stadtgesellschaft selbstkritisch Fragen zumuten: Ging es primär um das Wohl der Opfer, ihrer Angehörigen und der Überlebenden? Oder ging es primär darum, den Ruf der Stadt Stuttgart nicht zu schädigen?
Michael Kienzle quälen diese Fragen bis heute. „Wir wollten den Angehörigen helfen, aber wir haben wegen des Datenschutzes keinerlei Angaben zu den Personen bekommen“, sagt der Vorstand jener Stiftung, die noch im Jahr des Brandanschlags 1994 gegründet wurde. Also nahm die Stiftung einen anderen Weg. „Die Trauer sollte überführt werden in pragmatisches Erinnern und Handeln“, sagt der langjährige Grünen-Stadtrat. Daher vermiete man die renovierten Wohnungen in den Obergeschossen befristet an bedürftige Menschen.
Sicht- und erlebbar gewordener Mittelpunkt des Hauses ist aber der Stiftungssaal im ersten Stock. Dort leben Kienzle und Co. die kulturelle und gesellschaftliche Seite ihres Engagements aus. Inzwischen kann man dort sogar heiraten – so, wie es Josh von Staudach und seine Frau Gabi Fulir getan haben. An diesem geschichts- und schicksalsträchtigen Ort Ja zu sagen, sei ein „positiver Start in die Ehe“, sagt von Staudach.