Das Living war in Backnang ein Dorado der Waverszene

Nachtleben in alten Zeiten (16) Wie kann man den Laden zum Laufen bringen? Diese Frage stellte sich Christos Kiroglou 1983, als er seine neue Aufgabe in der Talstraße 61 antrat. Bald darauf machte er aus dem früheren Fox- und Discoschuppen einen der angesagtesten Plätze für Waver.

Im langen Schwarzen und mit Krawatte feierten Takis Gäste das dreijährige Bestehen des „neuen“ Living. Fotos: Susanne Willenbrink

Im langen Schwarzen und mit Krawatte feierten Takis Gäste das dreijährige Bestehen des „neuen“ Living. Fotos: Susanne Willenbrink

Von Armin Fechter

BACKNANG. Christos Kiroglou, den heute alle unter seinem Kurznamen Taki und als Inhaber des Backnanger Merlins kennen, hatte bereits erste Erfahrungen in der Gastroszene gesammelt, bevor er in die Stadt an der Murr kam, nämlich von 1979 bis 1983 in Heilbronn. Jetzt kam ihm das Angebot von Andreas Fotoglidis gerade recht, in Backnang selbst ein Lokal, das Living, zu führen – einschließlich der Option, es später ganz zu übernehmen. Im September 1983 schlug er ein. „Ich habe es gemacht, weil es Spaß machte“, erklärt Taki seinen Schritt heute.

Mit gerade mal 23 Jahren übernimmt Taki das Living

Vorher, so erinnert er sich, sorgte in der einstigen Gerberstube beispielsweise Peter Müller vom DJ-Team Backnang für die Musik. Es war die Zeit von Nenas „99 Luftballons“ und Udo Lindenbergs „Sonderzug nach Pankow“. Neue Deutsche Welle, Pop, Funk, Soul, R&B und eben typische Discoklänge herrschten in den Tanzlokalen vor, landauf, landab. Doch dem energischen jungen Chef, der ab Dezember 1983 im Living Regie führte, schwebte etwas Neues vor, etwas, das sich von anderen Locations abhob, auch von den Hip-Hop-Discos in Heilbronn. Als er eines Abends Matthias Voll kennenlernte, der immer eine weiße Maus auf der Schulter trug und der Grafik und Design studierte, war schnell klar: Das Living würde ein Platz für alternative Musik werden, ein Lokal für Independent-Musik und vor allem für New Wave – die neue subkulturelle Welle, die gerade aus England und New York herüberschwappte. Der Rhythmus hatte etwas Nervöses und Zappeliges, das Klangbild war von minimalistischen Synthesizer- und E-Gitarren-Sounds durchzogen. Der Stil zielte auf ein junges Publikum mit einem Hang zum Überdrehten. Heute, meint Taki, fände man diese Fangemeinde am ehesten im Jugendzentrum und im Wozi. Damals aber wurde das Living zum Dorado der Szene.

Ein Lokal für Independent-Musik, der Mythos Living, war geboren

So bunt und schräg wie die Musik kamen auch die meist dunkel gekleideten Waver selbst mit ihren gern weiß geschminkten Gesichtern daher, die sich vom wilden, unkontrollierten Punk absetzen wollten und in ihrer Musik und Mode feinere, gefasstere Ausdrucksformen pflegten. Um die neue Richtung im Living zu etablieren, holte sich Kiroglou einen DJ aus dem Stuttgarter Maxime: Andi Vita. Dieser spielte dann beispielsweise Titel von The Cure wie „Boys Don’t Cry“. Auf der Tanzfläche spielten sich dazu mitunter reichlich abgefahrene Szenen ab. Taki erinnert sich an eine Situation, die auf ihn wie eine Massenschlägerei wirkte. Als er alarmiert dazwischenging, stellte sich heraus: Die Kerle hatten einfach nur Pogo getanzt und waren aneinander hochgesprungen.

Allerlei Aktionen folgten. Einmal, kurz vor Fasching, zog Matthias Voll zusammen mit seinen Kumpels Kyriakos und Gogo los – als Frauen verkleidet. Der eine sang, der andere spielte Gitarre, der dritte trommelte: „I Love to Love You“, schmetterte das Trio auf seiner Tour von Kneipe zu Kneipe. Der Werbegag funktionierte: „Am Faschingssamstag ist der Laden aus allen Nähten geplatzt“, lacht Taki noch heute. Überhaupt, von Dienstag bis Sonntag sei das Living gut besucht gewesen, vor allem nach Mitternacht, wenn die Belinda in Sulzbach an der Murr zumachte.

Christos „Taki“ Kiroglou im Jahr 1986.

Christos „Taki“ Kiroglou im Jahr 1986.

Das war die Zeit, als der SWR im Radio das Living als Geheimtipp in der Region feierte. Wenn etwa Uli Waibel Wave auflegte, so blickt Taki zurück, war das die Attraktion. Schon bevor es losging, sammelten sich vor den Türen bis zu 200 Waver aus der ganzen Region. Ein irres Schauspiel, all die schwarz gewandeten Figuren mit ihren hochtoupierten Haaren, lauter Raketenköpfe und Besenstiele. Was da so gefährlich, so außerirdisch und befremdlich aussah, erlebte Kiroglou ganz anders: „Es war das angenehmste Publikum, das ich jemals kennengelernt habe.“

Für seine Gäste ließ sich der Chef einiges einfallen, er organisierte Spiele und Aktionen wie etwa das Kofferspiel, bei dem der Gewinner am Ende aus mehreren gleich aussehenden Koffern seinen Preis auswählt – und dabei Glück oder Pech haben kann. Einmal wurde im Living auch „der schönste Mann von Backnang“ gesucht. Jeder Gast konnte sich für den Wettbewerb nach Belieben verkleiden – und da traten sie dann an, sexy und verführerisch mit rasierten Beinen, der eine im Negligé, der nächste im Minirock.

Bei so viel Trubel blieb es nicht aus, dass es Beschwerden gab. Kiroglou wurde schließlich von der Stadt dazu verdonnert, selbst vor dem Lokal für Ruhe zu sorgen – damit sich der nächtliche Lärm in Grenzen hielt. Bis 1987 führte Taki das Living, dann übernahm er zwei Lokale in Kornwestheim. Dankbar und zufrieden blickt er aber auf die Jahre zurück: „Es war eine sehr schöne Zeit.“ Wobei er noch eine Person nennt, die ihm sehr geholfen habe: „Wasili“ – Vassilios Artzoglou, der damals die Pinte und später das Life hatte – „hat mich in allen Bereichen unterstützt.“

Living-Revival-Party Dass Taki die Tage im Living bis heute schätzt, hat er schon zweimal im Merlin deutlich gemacht. Die nächste Living-Revival-Party soll nun am Samstag, 2.September, stattfinden. Motto: „Back to the Eighties“.

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Erstellt:
20. August 2023, 06:00 Uhr

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