Nachtleben in Backnang: Zwischen Schwärmerei und realem Schwund
Nachtleben in alten Zeiten (19) Die 70er-, 80er- und 90er-Jahre haben Backnang eine bunt schillernde Nachtszene beschert. Discotheken und Kneipen zogen junge Leute in Scharen an. Warum ist diese Kultur verloren gegangen?
Von Armin Fechter
Backnang. Früher, vor 30 bis 50 Jahren, gab es das junge Publikum, das in Discotheken und Kneipen Kontakte, Erlebnisse und auch Abenteuer feierte. Kann es sein, dass sich diese Trends wirklich so verschoben haben? Was hat sich verändert? Die Frage muss erlaubt sein: Verklären die damaligen Kneipengänger etwa ihre Vergangenheit, wenn sie sich erinnern? Glorifizieren sie das Bild vom Nachtleben ihrer Jugendjahre? Handelt es sich bei ihrer Schwärmerei von den alten Zeiten nicht um pure Nostalgie, um eine sehnsuchtsvolle Rückblende auf „früher“, als alles noch anders und vor allem besser war?
Christos Kiroglou überblickt einen langen Zeitraum. Seit über vier Jahrzehnten ist Taki ununterbrochen in der Gastro- und Discoszene tätig, einige Jahre in Heilbronn, einige Jahre in Kornwestheim, aber die meiste Zeit in Backnang, wo er einst aus der Disco Living einen Hotspot für Waver aus der ganzen Region machte und wo er nunmehr seit 26 Jahren als Chef des Merlin eine erfolgreiche Location betreibt – Restaurant, Bar und Club gleichzeitig.
Kiroglou bestätigt, dass sich ein massiver Wandel vollzogen hat. Das Living sei damals, in den 80ern, von Dienstag bis Sonntag immer voll gewesen, erinnert er sich. Heute dagegen strömt nur am Wochenende das Publikum – speziell dann, wenn eine Mottoparty angekündigt ist: „Back to the Eighties“, „Living Revival“, „Disco-Fox-Nacht“ oder „Alte Grube Revival“. Landauf, landab geht es, so Takis Beobachtung, nach diesem Rezept. Und es sind nun nicht mehr in erster Linie junge Leute, die in den Clubs abtanzen, sondern überwiegend Leute aus der Generation, die mit dem Motto jeweils angesprochen wird. Zwar sind Jahr für Jahr auch Schüler zu ihm gekommen, um in den Merlin-Räumen ihre Abi-Vorfinanzierungspartys zu feiern. Aber selbst da hat er schon schwindendes Interesse in den Jahrgängen ausgemacht, bisweilen kreuzten nicht einmal die Organisatoren selbst zum Event auf – wobei auch eine Rolle spielt, dass viele noch nicht einmal 18 sind, wenn sie das Abi machen.
Junge Leute bevorzugen heute eher
die angesagteren Locations in Stuttgart
Aber warum leidet die Backnanger Szene unter einem solchen Schwund? Taki nennt zwei Hauptgründe. Zum einen zieht es die jungen Leute eher in die angesagteren Locations in Stuttgart, die dank S-Bahn-Service rund um die Uhr heute sehr viel leichter erreichbar sind als früher. Und zum anderen haben sich viele Jugendliche vom öffentlichen Feiern verabschiedet, weil sie lieber unter sich bleiben – innerhalb ihrer Clique, zusammen mit ihren engsten Freunden, Klassenkameraden, Kumpels aus dem Sportverein. Sie treffen sich dann im privaten Rahmen, zu Hause, auf einem Gartengrundstück, wo sie eben ungestört sind. Ausnahmen wie etwa das Backnanger Straßenfest, das für junge Leute nach wie vor ein Muss ist, bestätigen die Regel.
Doch es gibt noch andere Effekte, die sich auswirken, findet Armin Holp, der als Jugendlicher in den 90er-Jahren selbst in der Szene unterwegs war und auch als Juze-Vorstand Erfahrungen gesammelt hat. Aus einer ganz anderen Warte, als Bildungsreferent des Kreisjugendrings, hat er heute die Lebenswelten junger Menschen im Blick. Er spricht, wenn es darum geht, dass sich Leute ins Nachtleben stürzen, gern vom Weggehen, also vom Verlassen der häuslichen Umgebung. Als Hauptmotiv dahinter sieht er die Partnersuche. Die aber findet heute nicht mehr so sehr auf der Tanzfläche oder in der Musikbar statt, wie Holp erklärt. Vielmehr hat sich nach seinen Worten die Kontaktaufnahme und -pflege zu einem großen Teil ins Internet verlagert, sie spiele sich in Chats, auf Instagram, auf Tiktok ab. Schon allein dadurch seien deutlich weniger Leute unterwegs. Und wenn sie weggehen, dann eher nach Stuttgart, bestätigt er Takis Beobachtung.
Weniger Haartracht und Make-up,dafür mehr Werte und Haltungen
Aber auch das Leben innerhalb einer bestimmten Szene wie Punks oder Rocker – und damit das Tragen von ganz bestimmter Kleidung mit der jeweils passenden Haartracht, das dazugehörige Make-up, das gesamte Styling – gibt es nicht mehr in dem Ausmaß wie früher. Holp: „Heute definiert man sich eher durch Werte, durch Haltungen. Das basiert auch sehr viel auf Statements – da gibt es Fridays for Future, Black Lives Matter. Die Jugend will Statements setzen.“
Eine spürbare Rolle spielt bei alledem auch der demografische Wandel, wie Holp erläutert: „Es gibt viel weniger Jugendliche als früher.“ In den 80er- und 90er-Jahren bestimmten die Babyboomer die Szene – es gab sehr viele junge Gleichaltrige, die um die Häuser zogen und Kneipen und Clubs frequentierten. Und selbst wenn einer mal wegen Geldmangels nicht fort konnte, ist das nicht groß aufgefallen – denn „es waren noch zehn andere da, die weggegangen sind“.
Hinzu kommt, dass es unter den Jugendlichen heute große Unterschiede gibt. Sie seien internationaler, sagt Holp, es gebe unter ihnen viele Muslime, „die nicht so viel trinken und vielleicht eher in Shishabars gehen“. Und da auch die Preise angezogen haben, könne man sich das Ausgehen von vornherein nicht mehr so oft leisten. Obendrein hatte zuletzt noch die Coronapandemie Auswirkungen: Die strikten Kontaktbeschränkungen einerseits und die Schließungen in der Gastronomie andererseits haben ganzen Jahrgängen die Chance genommen, in einem sozialen Umfeld Freundschaften oder gar Beziehungen zu entwickeln.
Holp zieht gern den Vergleich zu früher, als er selbst unterwegs war und immer sicher sein konnte, Bekannte zu treffen: „Spätestens um neun musstest du in der Kneipe sein, damit du einen Platz kriegst.“ Das sei heute infolge des veränderten Ausgehverhaltens ganz anders. Gleichwohl gibt es nach wie vor gemütliche Kneipen, in denen man etwas trinken und sich gut unterhalten kann, unterstreicht Holp. Als Beispiele nennt er die Uhr und den Irish Pub sowie für ein jüngeres Publikum das Wohnzimmer am Willy-Brandt-Platz. Oder die Golden Lounge in der Talstraße, die sei „richtig schick eingerichtet, im Prinzip wie ein Club, fast schon wie eine Disco“. Und es gibt ja auch noch Merlin, Tante Emma und etliche andere Lokale, ganz zu schweigen von Institutionen wie Belinda und Life, die weiterhin bestehen, nur eben mit neuen Betreibern, neuen Akzenten, neuem Konzept.
Das Nachtleben insgesamt ist heute nicht mehr so aufgeregt wie einst, bilanziert Holp: „Dadurch, dass man nicht mehr so sehr in seinem subkulturellen Ding lebt, ist es viel toleranter geworden als früher, die Szene ist viel friedlicher geworden.“
Resonanz Unsere Serie „Nachtleben in alten Zeiten“ hat enorme Resonanz gefunden. In insgesamt 19 Folgen haben wir weit über 20 verschiedene Locations in Backnang und Umgebung vorgestellt – Locations, die einmal hip waren, die es aber, zum Leidwesen vieler Party- und Kneipengänger, heute nicht mehr in ihrer einstigen Form gibt.
Dank Mit dem heutigen Bericht endet die Serie. Die BKZ dankt allen, die mit Tipps, Fotos und Informationen zum Gelingen des Nachtlebenprojekts beigetragen haben. Sicher hätte es noch weitere Kneipen oder Clubs gegeben, die einer Erwähnung wert gewesen wären. Wir mussten uns jedoch auf jene beschränken, zu denen ausreichend Informationen vorlagen.
Internet Wer die Folgen noch einmal Revue passieren lassen will, kann dies auf der BKZ-Homepage (www.bkz.de) tun. Unter dem Button „Nachtleben in alten Zeiten“ (https://t1p.de/gfavw) sind alle gesammelt.