Der coole Goldfavorit vom VfB Stuttgart
Leichtathletik-Star Leo Neugebauer geht als Weltjahresbester in den mit Spannung erwarteten Zehnkampf an diesem Freitag und Samstag.
Von Jochen Klingovsky
Paris - Einen ganz besonderen Auftritt hatte Leo Neugebauer schon vor dem Beginn der Leichtathletik-Wettbewerbe in Paris. Seit knapp zwei Wochen gibt es das neue „Micky Maus“-Magazin, den Titel ziert eine durch ihn inspirierte Comicfigur namens „Leo Quakgebauer“, die Tick, Trick und Track auf eine sportliche Herausforderung vorbereitet. Außerdem steht in dem Heft ein Interview mit dem Sportler vom VfB Stuttgart – für den nun allerdings nur noch eine Frage zählt: Wie geht der olympische Zehnkampf aus?
Die Antwort gibt es an diesem Freitag und Samstag im Stade de France, und der Druck ist groß. Denn nach der WM 2023, bei der es erstmals keine Medaille gab, ruhen die Olympia-Hoffnungen der deutschen Leichtathletik vor allem auf zwei Stars: Weitspringerin Malaika Mihambo und Leo Neugebauer – die den unschätzbaren Vorteil haben, dass die Erwartungen anderer sie nicht groß interessieren. Mihambo hat längst ihren eigenen Weg gefunden, sich vor allem auf sich selbst zu fokussieren. Und Neugebauer hilft sein sonniges Gemüt. „Alles, was zählt, ist doch, im Wettkampf so locker zu bleiben wie im Training“, sagt er, „Druck haben nur die anderen.“ Erst recht seit dem 6. Juni.
An diesem Tag stellte Leo Neugebauer, der an der Universität von Austin/Texas Wirtschaft studiert hat, bei den US-College-Meisterschaften einen deutschen Rekord auf. Die 8961 Punkte sind zugleich die Weltjahresbestleistung, doch sie müssen nicht das Ende sein. „Ich weiß, dass noch nicht alles optimal gelaufen ist. Und ich weiß, dass in Paris noch ein bisschen mehr drin ist“, sagt Leo Neugebauer, dem natürlich bewusst ist, dass er mit einer neuen Bestleistung als erst sechster Zehnkämpfer nach Weltrekordler Kevin Mayer (Frankreich/9126), Ashton Eaton (USA/9045), Roman Sebrle (Tschechien/9026) und Damian Warner (Kanada/9018) die 9000-Punkte-Marke übertreffen könnte: „Das ist zwar definitiv möglich, aber kein Ziel. Ich freue mich auf den Zehnkampf in Paris – es wird schon ein cooles Ergebnis dabei rauskommen.“
Leo Neugebauer (24) bringt so schnell nichts aus der Ruhe, seine positive Art ist absolut bemerkenswert. „Sein Charisma“, schrieb das Magazin „Paris.24“ über den Zehnkämpfer, „übertrifft lässig die Strahlkraft einer Stadionbeleuchtung.“ Am bemerkenswertesten dabei ist wohl, dass Neugebauer glänzt, ohne jemals eine Medaille bei einem Großereignis gewonnen zu haben. Vor einem Jahr war er als Mitfavorit zur WM nach Budapest gereist, lag nach dem ersten Tag auch in Führung und wurde am Ende Fünfter. Das war keine Enttäuschung, aber auch kein Grund, in Euphorie auszubrechen. Heute sagt der VfB-Athlet: „Ich habe damals sehr viel gelernt.“ Wobei sich eine grundsätzliche Konstellation nicht verändert hat.
Leo Neugebauers stärkerer Tag ist eindeutig der erste. Und seine beiden Schwächen – Speerwurf und 1500 Meter – folgen ganz am Ende des Zehnkampfs. „Es ist schon kurios. Ich muss nach acht Disziplinen weit vorne sein“, sagt Leo Neugebauer, der innerhalb des Zehnkampfs die Weltbestmarke für die ersten acht Disziplinen hält. „Aber für mich passt das so. Ich kann damit ordentlich Druck auf meine Konkurrenten aufbauen.“ Und sich selbst am Ende ins Ziel retten. Irgendwie.
Wobei in Paris ein weiteres Problem dazukommen könnte: die Hitze. Neugebauer ist 1,98 Meter groß, er gehört zu den schwereren Athleten im Feld. „Die hohen Temperaturen können eine Rolle spielen“, sagt Jürgen Hingsen, den Leo Neugebauer als Rekordhalter in Deutschland abgelöst hat, „bei seiner großen Körperfläche ist das im Vergleich zu kleineren und leichteren Athleten nicht ohne.“ Ansonsten? Hat Hingsen großes Vertrauen in die Qualitäten des Olympia-Favoriten: „Er hat bei seiner fantastischen Jahresbestleistung gezeigt, über welch großes Potenzial er verfügt. Und ihm ist seit Budapest bewusst, dass eine WM oder Olympische Spiele etwas anderes sind als College-Meisterschaften. Wenn alles bei ihm stimmt, kann er eine ganz große Nummer werden.“
Die stärksten Konkurrenten in Paris dürften Europameister Johannes Erm aus Estland, Tokio-Olympiasieger Damian Warner (Kanada), der Puertoricaner Ayden Owens-Delerme und Niklas Kaul sein. Auch wenn Weltmeister Pierce LePage (Kanada) und der der französische Weltrekordler Kevin Mayer verletzungsbedingt fehlen, warnt Leo Neugebauer: „Alle sind auf ihrem A-Game. Es gibt viele Leute, die für die Medaillen in Frage kommen. Auf jeden Fall wird es ein sehr interessanter Wettkampf.“
Für den sich nun womöglich sogar die Generation „Mickey Maus“ interessiert.