Der einstige Backnanger Bahnhof im Stil einer italienischen Villa

Viele Backnanger trauern noch heute dem alten Bahnhof nach. Das einstmals stolze Bauwerk fiel in den 70er-Jahren einem Neubau zum Opfer. Jetzt hat Klaus Loderer rekonstruiert, wie es überhaupt zum Bau des früheren Empfangsgebäudes gekommen war.

Der Backnanger Bahnhof im Jahr 1925. Das Hauptgebäude wurde 1973 bis 1975 etappenweise abgerissen. Foto: Stadtarchiv Backnang

Der Backnanger Bahnhof im Jahr 1925. Das Hauptgebäude wurde 1973 bis 1975 etappenweise abgerissen. Foto: Stadtarchiv Backnang

Von Armin Fechter

BACKNANG. Klaus Loderer ist vom Fach. Er hat ein Architekturstudium an der Uni Stuttgart als Diplom-Ingenieur abgeschlossen und sich dabei schon früh auf Baugeschichte spezialisiert. Heute arbeitet der 58-jährige Backnanger unter anderem als Lehrbeauftragter an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen/Geislingen. Er engagiert sich zudem für die Ungarndeutschen, unter seiner Ägide stehen das Ungarndeutsche Heimatmuseum in Backnang und die ungarndeutsche Heimatzeitschrift „Unsere Post“. In Backnang ist er aber auch bekannt als Experte für bauhistorische Themen. Seiner bereits langen Reihe an Vorträgen und Veröffentlichungen hat er jetzt einen weiteren Baustein hinzugefügt: eine „bauhistorische Studie zu einem nicht erhaltenen Gebäude“, dem alten Backnanger Bahnhof.

Von den vielen einzelnen Bauten, die seinerzeit in Backnang entstanden sind, um den Betrieb der neu eröffneten Murrbahn zu steuern, ist heute, so resümiert Loderer, nur noch der kleine Durchlass zwischen der Oberen Bahnhofstraße (beim Adenauerplatz) und der Maubacher Straße im Original erhalten. Alle anderen Teile wurden im Lauf der Zeit entfernt und, sofern erforderlich, durch Neubauten ersetzt. Eines der letzten war der Güterschuppen, der einem vergrößerten Parkplatz zwischen dem Bürgerhaus und den Gleisanlagen weichen musste. Das Hauptgebäude selbst wurde 1973 bis 1975 etappenweise abgerissen.

Für die Murrbahnstrecke gibt es bisher keine umfassende Gesamtdarstellung

Entstanden ist die Murrbahn rund 100 Jahre davor: Am 26. Oktober 1876 wurde der Streckenabschnitt Waiblingen–Backnang eröffnet, am 11. April 1878 der Abschnitt Backnang–Murrhardt und am 1. Dezember 1879 der Abschnitt Hessental–Gaildorf. Die Lücke zwischen Murrhardt und Gaildorf wurde am 13. Mai 1880 geschlossen. Die Strecke Backnang–Bietigheim als zusätzlicher Ast der Murrbahn ging am 8. Dezember 1879 in Betrieb. Immer zu Jubiläen – zum 100-jährigen oder 125-jährigen Bestehen – befasste man sich mit dem Thema, es gab auch die eine oder andere Publikation. Ansonsten aber ist die Murrbahn ein wenig beackertes Terrain, wie Loderer bei seinen Recherchen gefunden hat: Für andere Strecken gibt es große, umfassende Gesamtdarstellungen, nicht aber für diese. Dabei kam gerade dem Backnanger Bahnhof mit seinen zahlreichen Nebengebäuden eine zentrale Funktion für die Strecke nach Schwäbisch Hall-Hessental zu, er war demzufolge auch als das größte und stattlichste Bauwerk konzipiert. Er galt als Bahnhof II. Klasse und war Sitz eines Betriebsbauinspektors. Wie der Bau aussah, ist in den Bauakten und auf Fotos dokumentiert. „Sein kleiner Bruder“, so Loderer mit einem Augenzwinkern, „steht heute noch – in Winnenden.“

Die hervorgehobene Bedeutung der Station Backnang ist trotz der multiplen Abrisse und Veränderungen, die auch der fortschreitenden Technik im Lauf der Jahrzehnte geschuldet waren, bestehen geblieben beziehungsweise neu aktiviert worden: Backnang stellt im S-Bahn-Netz der Region Stuttgart den einzigen Endpunkt für gleich zwei Linien dar, die S3 und die S4.

Klaus Loderer recherchierte über die Geschichte des Backnanger Bahnhofs. Foto: Alexander Becher

© Alexander Becher

Klaus Loderer recherchierte über die Geschichte des Backnanger Bahnhofs. Foto: Alexander Becher

Aber was war nun eigentlich das Besondere an dem ehemaligen Empfangsgebäude, das landläufig als Bahnhof bezeichnet wird, obgleich zu einem Bahnhof dem Grunde nach noch viele weitere Einrichtungen gehören? „Die technischen Gebäude wurden zuerst gebaut“, erklärt Loderer und verweist damit gleich auf das Kuriosum, dass der repräsentative Abschluss erst ein Jahr nach der Eröffnung der Strecke, im Herbst 1877, fertig wurde. Davor war in großer Eile ein provisorisches Verwaltungsgebäude in Holzbauweise erstellt worden, das nun nach Murrhardt versetzt werden konnte.

Das Backnanger Empfangsgebäude mit einer Länge von 43 Metern und einer Breite von 15 Metern war symmetrisch in drei Teile gegliedert. Die Form sollte an eine italienische Villa der Renaissance erinnern: Zwei dreigeschossige Pavillons mit Walmdächern waren durch einen niedrigeren Mittelbau verbunden. Sockel und Erdgeschoss bestanden aus Sandstein, die oberen Geschosse aus Backsteinmauerwerk. Das Empfangsgebäude war damit, so Loderer, das erste große Backsteingebäude und überhaupt der erste repräsentative Großbau des 19. Jahrhunderts in Backnang und dürfte eine gewisse Vorbildfunktion für die ab den 1890er-Jahren in größerer Zahl entstehenden Backsteinbauten in der Stadt eingenommen haben. Eine weitere Besonderheit stellte seine Lage außerhalb des damals bebauten Gebiets dar. Die Position über dem steilen Abhang zur Murr erlaubte auch nicht die an anderen Orten häufig anzutreffende, frontal auf den Bahnhof zulaufende Straßenführung („Bahnhofstraße“). Erst in den folgenden Jahrzehnten näherte sich die Bebauung an, auch vonseiten der Maubacher Höhe.

Die Rolle des Sektionsingenieurs Eduard von Alberti

Mit dem Bau der Murrbahn verbunden werden zwei Namen: Friedrich von Dillenius, Backnanger Ehrenbürger (1819 bis 1884), nach dem auch eine Straße in der Stadtmitte benannt ist, und Carl Julius Abel (1818 bis 1883). Oberbaurat Abel war für Planung und Bau der Strecke zuständig, an seiner Seite Oberbaurat Georg von Morlok (1815 bis 1896). Der Geheime Rat Dillenius war Landtagsabgeordneter für den Wahlkreis Backnang und fungierte als Generaldirektor der württembergischen Verkehrsanstalten. Er arbeitete an den Weichenstellungen im politischen Umfeld. Aber wer hat nun die Pläne für den Backnanger Bahnhof ausgearbeitet? Loderer identifiziert als Urheber den Sektionsingenieur Eduard von Alberti. Er war im Eisenbahnhochbauamt Waiblingen für den Entwurf der Hochbauten entlang der Murrbahn zuständig.

Dass die Murrbahn überhaupt gebaut wurde, hatte laut Loderer weniger mit Wirtschaftsförderung oder der besseren Anbindung an Stuttgart, Waiblingen oder Ludwigsburg zu tun. Im Königreich Württemberg, das damals noch für den Eisenbahnbau zuständig war, herrschte nämlich wegen der immensen Kosten eine wachsende Skepsis. Der Staat musste sich zur Finanzierung hoch verschulden, im Jahr 1888 summierten sich die Schulden auf 421 Millionen Mark, davon rührten allein 378 Millionen vom Eisenbahnbau her.

Erst am 8. Dezember 1872 rang sich die Abgeordnetenkammer dazu durch, für den Bau der Murrbahn grünes Licht zu geben. Dem lagen vor allem strategische Überlegungen zugrunde. Nach dem deutsch-französischen Krieg und der Reichsgründung – inklusive der Angliederung von Elsass und Lothringen – sah Berlin nach wie vor das Szenario eines neuerlichen Waffengangs.

Der geplante Lückenschlusszwischen Württemberg und Bayern

Für diesen Fall sollte eine neue Verbindung in Ost-West-Richtung geschaffen werden, die es erlaubte, Truppen des wichtigsten Verbündeten Österreich-Ungarn rasch von Böhmen an die Front im Westen zu bringen. Diesem Zweck sollte zum einen die Murrbahn als Lückenschluss zwischen Württemberg und Bayern dienen, zum anderen die Linie von Stuttgart nach Freudenstadt mit Anschluss ins Badische. Deshalb übte Berlin Druck auf Württemberg aus. Welche militärische Bedeutung dieser Querverbindung beigemessen wurde, sollte sich nach dem Ersten Weltkrieg von Neuem zeigen: Im Versailler Vertrag untersagten die Siegermächte einen zweigleisigen Ausbau – die Murrbahnroute Richtung Nürnberg blieb über weite Strecken eingleisig und ist es heute noch.

Übrigens: Am neuen Bahnhofsgebäude erinnert eine unscheinbare Infotafel rechts neben dem Eingang von der Straßenseite an den alten Bahnhof.

Eduard von Alberti

Herkunft In geradezu detektivischer Detailarbeit hat Klaus Loderer Lebensdaten des Bahnhofsarchitekten zusammengetragen. Danach wurde Eduard von Alberti am 24. Januar 1834 in Künzelsau geboren. Sein Vater war dort Rechtskonsulent, seine Mutter entstammte einer ortsansässigen Familie. Eduard war das neunte und letzte Kind des Paars. Nur wenige Wochen nach der Geburt starb der Vater.

Werdegang Über Schulbesuch und Ausbildung Eduards fehlen Informationen. Die erste bekannte Spur stammt aus dem Jahr 1860, als er die Werkmeisterprüfung erster Klasse in der Zunft der Maurer und Steinhauer bestand. In der Folge arbeitete er als Bauführer bei den württembergischen Staatseisenbahnen. Er heiratete eine gebürtige Künzelsauerin, Louise Vock. Aber erst 1872 sollte er eine feste Anstellung bekommen, als er zum Ingenieur-Assistenten ernannt wurde. Von Heilbronn aus hatte er Bauarbeiten am Bahnhof in Calw zu betreuen, ehe er dann in Waiblingen tätig wurde. 1877 verlieh ihm König Karl den Titel Sektionsingenieur. Eine weitere berufliche Station war das Eisenbahnhochbauamt Gaildorf, ehe er Vorstand des Eisenbahnhochbauamts Heilbronn wurde. Nach dessen Auflösung wurde von Alberti 1882 nach Stuttgart ins bautechnische Bureau der Generaldirektion der Staatseisenbahnen versetzt. Zu seinem Verantwortungsbereich gehörte nun der Bahnhof Esslingen. 1887 erhielt er den neu geschaffenen Titel Abteilungsingenieur. Das Ehepaar lebte inzwischen in Stuttgart. Etwa 1895 trat er in den Ruhestand, am 11. April 1898 starb er.

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Erstellt:
27. Dezember 2022, 06:00 Uhr

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