Der Großvater als Schatz besonderer Art

Laura-Sophie Großmann hat sich im Rahmen ihres Lehramtsstudiums mit dem Leben ihres Opas Gerhard Pfizenmaier aus Murrhardt befasst. In zwei Arbeiten setzt sie sich mit seiner Jugend im Dritten Reich und im Krieg sowie mit seinem späteren Weg auseinander.

Laura-Sophie Großmann ist davon überzeugt, dass die Vermittlung von individuellen Schicksalen wie demjenigen ihres Großvaters auch im Unterricht wertvoll ist, weil Geschichte so in ihrer Komplexität und Vielfältigkeit erfassbar wird. Fotos: Stefan Bossow

© Stefan Bossow

Laura-Sophie Großmann ist davon überzeugt, dass die Vermittlung von individuellen Schicksalen wie demjenigen ihres Großvaters auch im Unterricht wertvoll ist, weil Geschichte so in ihrer Komplexität und Vielfältigkeit erfassbar wird. Fotos: Stefan Bossow

Von Christine Schick

Murrhardt. Schon früh hat sich Laura-Sophie Großmann für Geschichte interessiert und zwar auch, wie die ganz konkret in der eigenen Familie aussah. Als sie sich in der neunten Klasse zu einem Referat zum Thema Hitlerjugend (HJ) entschloss, befragte sie ihren Großvater Gerhard Pfizenmaier (1928 bis 2020) aus Murrhardt, der ihr von seiner Zeit im Jungvolk und in der HJ erzählen konnte. Später im Rahmen ihrer Bachelor- und Masterarbeit – sie studierte Deutsch und Geschichte auf Lehramt (Sekundarstufe 1, bis zehnte Klasse) in Schwäbisch Gmünd – hat sie sich weiter ins Leben ihres Großvaters vertieft. Betreut hat sie Professor Gerhard Fritz, der zudem einen Beitrag über die zwei Projekte im Backnanger Jahrbuch begleitet hat beziehungsweise begleitet.

Die 25-Jährige, die in Winterbach lebt und zurzeit ihr Referendariat an der Realschule Remshalden macht, hat viele der Dokumente ihres Opas mitgebracht, mit denen sie gearbeitet hat: ein Tagebuch in Sütterlin, Fotografien, nachträglich festgehaltene Erinnerungen und Reflexionen sowie Unterlagen wie Abschlüsse. Es ist der Schatz, aus dem sie schöpfen konnte und kann, letztlich auch musste. „Mein Großvater hatte 2020 einen Schlaganfall“, erzählt sie. „Er hat viele Schmerzmittel bekommen und es hat sich gezeigt, dass sich seine damaligen Erlebnisse mit der heutigen Realität vermischt haben.“ Großmann arbeitete sich ins Sütterlinalphabet – angespornt von Gerhard Fritz – ein, um sich das Erlebte und die Ereignisse alleine zu erarbeiten.

Der Vater sieht die NSDAP kritisch

Gerhard Pfizenmaiers Leben steht für eine Generation, die in der NS-Zeit groß wird und als junge Menschen den Zweiten Weltkrieg erlebt und erleidet. 1928 in Tübingen geboren, wuchs er zunächst in Balingen in einer Familie auf, die die Entwicklungen und das NS-Regime durchaus kritisch betrachtete. Sein Vater, der seine Ausbildung beim Murrhardter Waagenbetrieb Soehnle machte und als Justierer bei Bizerba in Balingen arbeitete, berichtete zu Hause, wie sich die politischen Verhältnisse auch im Betrieb zuspitzten – etwa wie NSDAP-Mitglieder ihm bei einer Versammlung die Mütze vom Kopf geschlagen hatten. Auch der Abtransport von sogenannten Arbeitsscheuen, Sozis und Kommunisten in Arbeitslager war Thema in der Familie. „Der Vater sagt, das bedeutet nichts Gutes“, gibt Laura-Sophie Großmann den Bericht ihres Großvaters wieder. „Und dass die SS und SA mittlerweile mehr Einfluss im Betrieb als die Fachkräfte haben.“ Es reifte 1936 der Plan, nach Murrhardt zurückzukehren, wohl in der Hoffnung, auf dem Land dieser Entwicklung nicht so stark ausgesetzt zu sein. Gerhard Pfizenmaier musste sich in der Walterichstadt als Kind neu zurechtfinden, damit zurechtkommen, das Geschwisterchen und die verwirrte, heute würde man sagen demente Großmutter zu betreuen, in der Landwirtschaft der Familie mit anzupacken und den Vater im Krieg zu wissen.

Konfrontation mit Gefahr und Tod

Der befürwortete es nicht, dass sein Junge zur Hitlerjugend stieß. Aus Erzählungen weiß die 25-Jährige, dass ihr Großvater es anfangs in der Gruppe mit den anderen Kindern und Jugendlichen gut fand und beim Jungvolk Jungenschaftsführer wurde. Doch die Begeisterung ließ nach. Als er sich mit seinem Freund Gerhard Dürrwächter zu einer Radtour nach Schorndorf aufmachte, statt mit dem Fähnlein (bestimmte Einheit) zum Sonntagslager zu marschieren, wurden die beiden degradiert, erzählt Großmann. Dem Krieg konnte der 16-Jährige nicht entgehen: Sein kompletter Jahrgang der Lateinschule in Backnang wurde am 11. Januar 1944 eingezogen. Als Flakhelfer fanden sich die Jugendlichen an der Schwarzenbach-Talsperre im Geschützstand wieder. Zwar gab es auch in dieser Zeit Schulunterricht und kleine Fluchten in die Natur, aber die Autorin stellt in ihrem Beitrag im Backnanger Jahrbuch (siehe Infotext) auch fest: „Konfrontationen mit Gefahr und Tod sowie das Leben unter ständiger Angst gehörten spätestens jetzt zum Alltag.“ Beim schwersten Bombenangriff am 19. Juli 1944 wurden sieben Jugendliche, unter ihnen sein Freund Dürrwächter, verletzt. Die nächste Station: Kirrlach bei Bruchsal, wo er miterlebte, dass von den deutschen Fliegern, die dort mit Bomben bestückt wurden und losflogen, nur ein Drittel zurückkehrte. „Der Alltag der LWH (Luftwaffenhelfer) war geprägt von Todesangst. Das Motto lautete: Wer weiß, ob wir den Abend noch erleben. Getreu diesem Motto nahmen die LWH ihr Mittagessen häufig bereits am Vormittag zu sich“, schreibt sie im Beitrag.

Großmann konnte mit Originaldokumenten wie einem Kriegstagebuch und Fotos arbeiten.

© Stefan Bossow

Großmann konnte mit Originaldokumenten wie einem Kriegstagebuch und Fotos arbeiten.

Als sein Jahrgang am 13. März 1945 entlassen wurde, kam ihr Großvater zum Reichsarbeitsdienst nach Bayern. Mit den Murrhardter Freunden Ernst Schrader und Eberhard Föll entschloss er sich, zu desertieren, der Gefahr durchaus bewusst, als Fahnenflüchtiger aufgeknüpft zu werden. „Sie hatten eine Packung Morphium bei sich, um sich im Notfall umzubringen“, sagt seine Enkelin. Nachdem sie sich im Zuge der Kriegswirren wieder einreihen mussten, wagten sie zum zweiten Mal den Schritt, sich abzusetzen. Pfizenmaier kam später in Gefangenschaft, die er unter schweren physischen Strapazen überstand, und kehrte Ende Mai 1945 nach Murrhardt zurück.

Was nach der Jugend an der Front folgt

In ihrer Masterarbeit hat sich die Enkelin dem weiteren Lebensweg des Großvaters gewidmet („Eine Jugend an der Front und dann?“). Es wird deutlich, dass dieser einerseits (noch) vom Krieg, andererseits auch vom Wirtschaftsaufschwung geprägt war. Gerhard Pfizenmaier wollte an die Schule anknüpfen, Lehrermangel und die schwierigen Rahmenbedingungen führten aber dazu, dass er abging und eine Ausbildung als Stahlgraveur in Ludwigsburg absolvierte. Im dortigen Betrieb lernte er seine spätere Frau kennen, deren Familie aus dem Gebiet des heutigen Tschechien vertrieben wurde. Die Verbindung stieß bei beiden Familien auf Widerstand. „Die zwei haben beschlossen, ein Kind zu bekommen, die Eltern sind nicht zur Hochzeit gekommen.“

Neben dem Familienprojekt mit drei Kindern hieß es für Pfizenmaier, auch beruflich zu reüssieren, und die Recherchen seiner Enkelin sind so auch ein Fenster in die damalige Arbeitswelt – mit den Themen Gastarbeiter, technische Herausforderungen in einem Betrieb mit galvanischen Verfahren (Metallbeschichtung) und dem Vertrieb einer großen Palette an Haushaltsgeräten. Pfizenmaier arbeitete im Kreis Ludwigsburg, in Köln, später wieder in Freiberg am Neckar. 1986 erfolgte ein harter Einschnitt – nach einem Herzstillstand war er mit 58 Jahren nicht mehr arbeitsfähig, beschäftigte sich seitdem intensiv (und auch erfolgreich) mit seiner Gesundheit.

Arbeit mit Materialien im Unterricht

Beeindruckt hat Laura-Sophie Großmann, dass ihr Großvater auch unter äußerst schwierigen Lebensbedingungen „immer einen Ausweg gefunden“ und seine eigenen Wünsche und Ziele bewahren, teils auch durchsetzen konnte, wie insbesondere beim Desertieren oder in der Entfernung von der HJ für sie deutlich wird. Zu spüren sei auch ein starker Leistungswille, trotz der teils fehlenden Unterstützung im Umfeld.

Das, was sie sich erarbeitet hat, nutzt die 25-Jährige auch im Unterricht, um Schüler für die Zeit und Themen zu sensibilisieren. Dort begegnen ihr auch schon mal unreflektierte Kriegsbegeisterung oder Aussagen wie „Auf die Hitlerjugend hätte ich voll Bock“. Als wertvoll in diesem Zusammenhang hat sie die Projektarbeit mit Originaldokumenten und dem biografischen Material ihres Großvaters erlebt. „Noch besser wäre es natürlich, mit Zeitzeugen zu arbeiten.“ Aber die Tatsache, dass die Zeit über den örtlichen und persönlichen Bezug für die Jugendlichen (be-)greifbarer wird – was diese ihr auch zurückmelden –, schätzt sie sehr und hält diese Methodik für ein wichtiges pädagogisches Einsatzwerkzeug.

Die beiden Beiträge der Autorin

Der Beitrag von Laura-Sophie Großmann über ihren Großvater ist im Backnanger Jahrbuch 2021 (Band 29) unter dem Titel „Autobiografische Aufzeichnungen von Gerhard Pfizenmaier aus dem Zweiten Weltkrieg“ erschienen: ISBN: 978-3-927713-67-3. Die Autorin wird im nächsten Jahrbuch eine zweite Arbeit veröffentlichen, um weitere Aspekte seines Lebens zu behandeln. Es erscheint voraussichtlich im November.

Zum Artikel

Erstellt:
13. September 2023, 06:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen