Drogenkrieg in Marseille

Der Killer von Marseille ist noch ein Kind

Immer jünger, immer brutaler: Frankreich ist schockiert über minderjährige Gewalttäter der Marseiller Drogenszene.

Marseille: Die  Hafenstadt am Mittelmeer war  schon immer ein Umschlagplatz für Drogen. Jetzt hat die Gewalt eine neue Ebene erreicht.

© dpa/Arne Dedert

Marseille: Die Hafenstadt am Mittelmeer war schon immer ein Umschlagplatz für Drogen. Jetzt hat die Gewalt eine neue Ebene erreicht.

Von Stefan Brändle

Eine neue Episode des Marseiller Bandenkriegs bestürzt in diesen Tagen ganz Frankreich. Laut dem Marseiller Staatsanwalt Nicolas Bessone ist „ein weiteres Niveau der Gewalt erreicht“. Das ist noch zurückhaltend ausgedrückt.

Alles hatte damit begonnen, dass ein inhaftiertes Mitglied einer Drogengang mit Namen DZ Mafia über den Messagingdienst Telegram einen jungen Handlanger verpflichtete. Dieser 15-Jährige, bisher unbekannt im Milieu, sollte für 2000 Euro Entlohnung ein paar Schüsse auf einen gegnerischen Umschlagplatz abgeben. Das Ziel: eine konkurrierende Bande namens New Blacks einschüchtern, deren Mitglieder von der Afrika vorgelagerten Inselgruppe der Komoren stammen. Der unerfahrene Teenager wurde von den Komorern erwischt. Sie verletzten den Jungen mit 50 Messerstichen und steckten ihn noch lebend in Brand – offensichtlich eine Botschaft an die Gegenseite.

Der 14-Jährige sollte 50 000 Euro erhalten

Der Auftraggeber heuerte daraufhin aus dem Knast einen Killer an, der den grausamen Mord rächen sollte. Für 50 000 Euro fand er einen gerade mal 14-jährigen Mittelschüler. Er bestellte ihm einen Mietwagen mit Chauffeur. Dieser unbescholtene Familienvater weigerte sich dann aber, bis zu dem stadtbekannten Dealer-Treff zu fahren. Der 14-Jährige setzte ihm darauf die Pistole an. Ein Schuss löste sich, der Fahrer war auf der Stelle tot. Der Schütze flüchtete mit Hilfe eines Komplizen, wurde aber bald darauf verhaftet.

Die Franzosen fragen sich entsetzt, wie es möglich ist, dass ein Schwerkrimineller seine Geschäfte aus dem Gefängnis – sogar aus der Isolierhaft heraus– betreiben kann. Die Antwort ist wenig erfreulich: In einem am Dienstag erschienenen Enthüllungsbuch namens „Tueurs à gages“ (deutsch: Auftragskiller) bezeichnen es die Autoren, drei Polizeiberichterstatter, als völlig alltäglich, dass verhaftete Drogenbosse aus ihrer Zelle per Handy weiter ihr Geschäft abwickeln.

Minderjährige erwartet ein niedrigeres Strafmaß

Landesweite Bestürzung herrscht aber vor allem wegen des Alters der ausführenden Täter. Auf dem Radiosender RMC erinnerte sich ein Gefängnisbediensteter, er sei dem festgenommenen 14-Jährigen schon vor Monaten einmal begegnet: „Als er im Gefängnis ankam, war er völlig aufgeschmissen, mit einem ängstlichen Blick, schmächtig – ein kleiner Junge halt.“ Seine Eltern seien als Dealer bekannt, er selbst werde seit dem neunten Jahr von den Sozialdiensten betreut. „Doch die einzige Bildung, die sie erhalten, ist die der Straße“, erzählte der Justizbeamte. „Sie töten, ohne sich auch nur im Klaren zu sein, dass sie wirklich töten.“

Sozialarbeiter berichten, dass die Drogengangs Minderjährige bisher meist auf Beobachterposten einsetzten, weil damit keine schwierige Arbeit verbunden ist. Mehr und mehr kämen sie jetzt aber bei gefährlichen Einzelmissionen zum Einsatz. Denn dabei warte auf einen 14- oder 15-Jährige ein niedrigeres Strafmaß.

2023 gab es 49 Morde in der Marseiller Drogenszene

Der Vizepräfekt des Departementes Bouches-du-Rhône mit Marseille als Hauptort, Yannis Bouzar, schätzt das Alter dieser „Hilfskräfte“ auf elf bis 14 Jahre. „Gegen die Dealer, welche die Zerbrechlichkeit dieser Jungen ausnützen, ist mehr polizeiliche Repression unerlässlich“, befand er. „Aber wir brauchen auch mehr Vorbeugung für die jungen Handlanger.“ Die Polizeidienste besuchen seit einiger Zeit die Mittelschulen von Marseille-Nord, um den Schülern die Augen zu öffnen. Sie erzählen ihnen, es beginne meist damit, dass einem ein Unbekannter einen Hamburger oder ein neues Paar Turnschuhe anbiete. Bereits fünfzig Schulen haben die im Duo auftretenden Polizisten besucht.

In Sachen Repression bleibt die Polizei auch nicht untätig. Allein in Marseille werden täglich rund zehn Dealerspots geräumt. Im vergangenen Frühling lancierte die Regierung in der südfranzösischen Metropole eine Operation mit 4000 Polizeikräften. 120 Dealer wurden in drei Tagen verhaftet, Tonnen von Drogen beschlagnahmt. Präsident Emmanuel Macron erklärte, es sei das „Ziel, den Händlern und ihrer Begleitwirtschaft das Leben unmöglich zu machen“. Vorläufig tun sie das die Dealer selbst: Im vergangenen Jahr kam es in der Marseiller Drogenszene zu 49 Morden.

Die Hafenstadt war mit ihrer Nähe zu Produzentenländern wie Marokko schon immer ein Umschlagplatz für Drogen. Die französische Atlantikküste wird nun zudem zu einer Anlaufstelle für die Kokain-Connection aus Südamerika. Der Generalstaatsanwalt von Aix-en-Provence, Franck Rastoul, hat vor wenigen Wochen ein sehr düsteres Bild der zunehmenden Drogenproblematik in Frankreich gezeichnet. „Wir müssen uns endlich bewusst werden, welche verheerenden Folgen der Drogenhandel hat. Er untergräbt die Grundfesten unserer Gesellschaft, mit Jugendlichen, die durch das ‚leichte‘ Drogengeld regelrecht berauscht sind und dadurch das menschliche Leben völlig missachten.“ Von den verheerenden Folgen des Drogenkonsums gar nicht zu reden.

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Erstellt:
11. Oktober 2024, 11:18 Uhr

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