Die Frage nach dem Warum steht weiter im Raum
Verhandlungstag drei im Prozess um die Plüderhausener Messer-Attacke wirft Schlaglichter auf die Biografie des Angeklagten

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Im Prozess um die Plüderhausener Messer-Attacke sprachen Zeugen darüber, wie sie den Angeklagten erlebt haben. Foto: BilderBox
Von Peter Schwarz
PLÜDERHAUSEN. Weshalb hat dieser junge Asylbewerber, der bis dahin offenbar nie durch besondere Aggressivität aufgefallen war, eine derart brutale Tat begangen? Die Frage steht auch nach dem dritten Tag der Verhandlung um die Plüderhausener Messer-Attacke vom vergangenen Jahr weiter im Raum.
Ließe sich sagen, dieser junge Mann sei seit seiner Ankunft in Deutschland als integrationsunwillig und gewaltbereit aufgefallen, könnte man einen Strich darunter ziehen und resigniert bilanzieren: Nun gut, es war leider absehbar. Aber so ist es nicht. Was wir bislang über die Tat wissen und was über den Täter: Es greift nicht ineinander.
Die Tat: Sie zeugt von brachialer Gewalt. Ein 20-jähriger afghanischer Asylbewerber steigt ins Haus seiner Exfreundin ein, die sich von ihm getrennt hat, findet sie nicht vor, schlägt auf ihren Vater ein mit einem Messer und fügt dem am Boden liegenden Mann acht Schnittwunden zu, teilweise mehrere Zentimeter tief und bis zu 15 Zentimeter lang, an der Schläfe, am Arm, an Schenkel und Wade. Die Beweislage ist glasklar: Selbst wenn der Angeklagte am ersten Verhandlungstag nicht gestanden hätte, würden die DNA-Spuren an der Tatwaffe zur Überführung ausreichen.
Handelte er im Affekt? Nichts spricht dafür. Im Gegenteil: Stunden vor der Tat entwendete er aus der Pizzaküche, wo er arbeitete, ein besonders scharfes Fleischmesser; er nahm, als er von Schorndorf nach Plüderhausen ging, im Hochsommer Handschuhe und einen Überziehschal mit; und er war anderthalb Stunden zu Fuß unterwegs – genug Zeit, um zur Besinnung zu kommen und innezuhalten. Er stieg über den Balkon ein: eine Kletterleistung, die nicht auf Alkoholisierung schließen lässt.
Mag sein, dass er davor etwas getrunken hat, wie er sagt – als ihn die Polizei gut drei Stunden nach der Tat einem Alkoholtest unterzog, kamen jedenfalls null Promille heraus. Nach dem Überfall suchte er, das ergab das Auslesen seines Handys, nach Sexvideos.
Dass er so planvoll vorging und so heimtückisch – er überrumpelte einen vollkommen Arglosen –, lässt eigentlich nur einen Schluss zu: Er wird verurteilt werden wegen versuchten Mordes. Soweit die Tat.
Eine Gastmutter beschreibt ihn als „fröhlich und lustig“
Der Täter: Mehrere Menschen, die ihn kennen, haben mittlerweile als Zeugen im Prozess ausgesagt, und alle beschrieben ihn ähnlich. Zwei Beispiele vom dritten Prozesstag.
Die Gastmutter: Sie lernte ihn im Februar 2016 kennen, er lebte seinerzeit als „UMA“, als unbegleiteter minderjähriger Ausländer, im Mönchhof. Im Juni 2016 nahm die Familie ihn bei sich auf. „Das Verhältnis war gut“, berichtet die Gastmutter, er hat „ziemlich schnell Mama und Papa zu uns gesagt“, war „fröhlich und lustig“.
Die vier Kinder des Ehepaars mochten ihn, er lernte Deutsch an der Berufsschule in Schorndorf.
Ein Mann, mehrere Frauen wie in Afghanistan? Das könne sie sich überhaupt nicht vorstellen, erklärte ihm die Gastmutter. Er habe gesagt: „Er findet es auch besser, wie es hier ist“, in Deutschland, dass ein Junge und ein Mädchen einander selber wählen und nicht die Eltern über sie verfügen. „Mir gegenüber war er immer höflich.“ Sie wollte ihm Nähen beibringen, stellte aber fest: „Das konnte er viel besser als ich.“ Er hatte offenbar schon als Kind jahrelang in einer Schneiderei gearbeitet.
Nach zwei Monaten verließ er den umgebauten Bauernhof der Familie, das Leben dort war ihm doch zu abgeschieden. Dass es ihn wegzog, enthüllte er nur zögerlich – „ich hatte das Gefühl, er wollte uns nicht verletzen“.
Später lebte er in einer Kinderdorf-Wohngruppe, dann in einer Obdachlosenunterkunft, der Kontakt zur ehemaligen Pflegemutter riss aber nicht ganz ab. Sie wusste, dass er eine Freundin aus Plüderhausen hatte, und sie gewann auch den Eindruck: „Er hat sie echt gern, er liebt sie.“
Einige Tage vor der Tat traf sie ihn, er wirkte ungewohnt bedrückt. Er habe gesagt: „Mama, die Beziehung ist aus.“ Und: „Meine Eltern wollen nichts mehr mit mir zu tun haben, weil ich so deutsch geworden bin.“ Sein Vater habe ihm am Telefon erklärt: „Du bist nicht mehr mein Sohn.“
Ein Arbeitgeber: Der Pizzawirt, bei dem der junge Mann als Küchenhelfer arbeitete, beschreibt ihn als „sehr gut, sehr anständig, fleißig und zuverlässig.“ War der 20-Jährige je aggressiv? „Nein. Nein, nein!“
Die Wunden, die der Vater des Mädchens bei dem Angriff erlitt, waren, das belegen Aussagen eines Unfallchirurgen und der medizinischen Gutachterin, zwar „nicht akut lebensbedrohlich“. Aber: Die „relativ großen Schnitte“ – einer war von solcher Wucht, dass die Klinge eine Kerbe in den Wadenbeinknochen schlug – zeugen von „roher Gewalt“. Das Messer verfehlte ein Hauptblutgefäß nur um etwa drei Zentimeter: reiner Zufall, glückliche Fügung.
Wie aus dem Nichts in den eigenen vier Wänden heimgesucht
Die psychischen Versehrungen wiegen wohl schwerer: der Verlust des Urvertrauens, wenn ein Mensch wie aus dem Nichts in den eigenen vier Wänden derart heimgesucht wird; die Zweifel, ob es sich überhaupt noch leben lässt in diesem Haus, wo alles vollgesogen ist mit bedrückenden Bildern; die marternden Fragen – hat er unsere Tochter umbringen wollen?
Dieser Vater, der Eindruck drängt sich immer stärker auf, ist ein besonderer Mensch: Bereits am ersten Prozesstag hat er gesagt, es sei ihm ein „Herzensanliegen“, vergeben zu können. Und dem Bericht der Gastmutter hört er mit erkennbarer Anteilnahme zu. Solche innere Größe ist bewundernswert – man wünscht sich, dass sie helfen wird, die Folgen der Tat zu überwinden.