Die grantige Republik
Das Land ist immer noch besser als die Stimmung. Daher stellt sich eine Frage: Wo ist die Freude hin?
Von Thomas Scharnagl
Berlin - Darf man das so sagen? Darf man das schwarz auf weiß schreiben – und auch noch veröffentlichen? Oder muss man sich dann als Naivling beschimpfen lassen? Als Dummkopf? Oder als Systemjournalist gar, der seine Weisungen tagtäglich aus dem Kanzleramt bekommt? Ja, man darf das sagen – und man sollte beziehungsweise muss das auch mal sagen: Deutschland ist nicht nur ein schönes Land, Deutschland ist auch ein gutes Land. Ein Land, dass einem ein Leben in Freiheit ermöglicht, ein Land, in dem jeder nach seiner eigene Façon glücklich werden kann, in dem sich jeder verwirklichen kann, in dem jeder seine Chance hat – auf freie Schulwahl, auf freie Berufswahl. Die Menschen dürfen reisen, wohin sie wollen. Sie dürfen wählen, wen sie wollen. Sie dürfen ihre Meinung frei äußern, ohne jegliche Gefahr auch frontal gegen die regierenden Parteien.
Ja, Deutschland ist ein wunderbares freies Land. Und genau das sollte man gerade in diesen Herbsttagen, in denen der 3. Oktober als Tag der Deutschen Einheit im Kalender steht, einmal betonen. Und all die Menschen in den „alten Bundesländern“, die oft so müde und satt und apathisch und frustriert sind, sollten das glücklich zur Kenntnis nehmen. Und all die Menschen in den „neuen“ Bundesländern, die sich als Wutbürger, Ostalgiker oder gar als Putinfreunde aufspielen, sollten die Freiheit, die dieses Deutschland bietet und dieses „System“ nicht gering schätzen oder – treffender gesagt – nicht so verachten. Denn damit verraten sie einen wichtigen Abschnitt ihrer eigenen Geschichte.
„Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise...“, sprach der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher vom Balkon der Prager Botschaft zu 4500 Flüchtlingen aus der DDR. Und der Jubel der Menschen war so groß, dass der Rest des Halbsatzes bekanntlich darin unterging. Der Jubel war deshalb so groß, weil die Menschen ihre DDR satt hatten. Weil sie nicht mehr bevormundet werden wollten, weil sie nicht in einem Land leben wollte, das an der Kette des „großen Bruders“ Sowjetunion gefesselt war. Weil sie nach Freiheit lechzten. Genau nach dieser Freiheit, die auch die heutige gemeinsame Bundesrepublik allen Bürgern bietet.
Ja, Deutschland ist ein gutes Land, allen Problemen zum Trotz. Und Deutschland ist beileibe nicht der kranke Mann Europas, wie ausländische Medien und Politiker uns gerne weismachen wollen. Deutschland ist immer noch die Lokomotive Europas, schwächt sich aber selbst mit seiner fatalen Lust am eigenen Untergang, am Jammern in Dauerschleife, am Hang zu Hysterie und Übertreibungen. Jedes Problem, das an irgendeiner Stelle auftritt, wird stets zum Symptom für den Zustand der gesamten Republik hochstilisiert. Und, nur mal nebenbei bemerkt: Wenn es bei der Deutschen Bahn kracht und knirscht, heißt das eben noch lange nicht, dass der komplette Staat marode ist.
Sicher, das Land steckt in einer Krise – nicht nur wegen der chaotisch agierenden Ampel, der schwächelnden Wirtschaft, des unbegreiflichen Krieges, den Russland gegen die Ukraine führt, oder der Spätfolgen der Corona-Pandemie. Das Land steckt in der Krise, weil es seine eigenen Qualitäten nicht mehr sehen will, weil es seine Probleme aufbläst anstatt sie zügig zu lösen, weil es seinen legendären Erfindergeist gegen Lahmarschigkeit eingetauscht hat und vor allem weil es die Freude verloren hat.
Zum Tag der Einheit ist diesem Land eines zu wünschen: Dass es sich an die Stimmung der Wendezeit erinnert und endlich die Rolle des grantigen Mannes Europas ablegt.