„Die Zahlen der Geflüchteten explodieren wieder“

Interview Die Zahl der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, ist inzwischen höher als in der Flüchtlingskrise 2015/16. Steffen Blunck und Melih Göksu kümmern sich um die Aufnahme der Geflüchteten im Rems-Murr-Kreis.

Auf dem Sportplatz des Beruflichen Schulzentrums Backnang ist erst kürzlich eine Zeltunterkunft für 300Geflüchtete errichtet worden. Archivfoto: Alexander Becher

© Alexander Becher

Auf dem Sportplatz des Beruflichen Schulzentrums Backnang ist erst kürzlich eine Zeltunterkunft für 300 Geflüchtete errichtet worden. Archivfoto: Alexander Becher

Rems-Murr. Jede Woche kommen derzeit um die 100 Schutzsuchende im Rems-Murr-Kreis an – mehr als zu der Zeit, in der Altkanzlerin Angela Merkel verkündete: „Wir schaffen das!“ Es ist wieder Flüchtlingskrise. Doch vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine sowie der Inflation, der Energie- und der Klimakrise ist das ins öffentliche Bewusstsein noch nicht recht vorgedrungen. Steffen Blunck und Melih Göksu sind für die Unterbringung der Ankommenden im Kreis zuständig. Sie geben einen Einblick in die aktuelle Situation und ziehen einen Vergleich zur Krise 2015/16.

Herr Blunck, Herr Göksu, seit mehreren Wochen ist davon die Rede, dass die Anzahl der Geflüchteten stark zugenommen hat. Wie ist die Lage im Kreis?

Blunck: Das Regierungspräsidium Stuttgart hat uns Ende letzter Woche mitgeteilt, dass die Zugangszahlen nach wie vor auf demselben Niveau sind wie Anfang August – also nach wie vor extrem hoch. Tatsächlich haben wir im Kreis seit Kriegsausbruch gerade so viel zu tun wie noch nie.

Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Blunck: Das Land Baden-Württemberg merkt gerade Zuströme über zwei Wege: sowohl über die bundesweite Verteilung von ukrainischen Geflüchteten als auch über Direktzugänge von Asylbewerbern, die uns über das Mittelmeer und die Balkanroute erreichen – vielleicht auch als Resultat des Krieges in der Ukraine. Es hat ja jeder mitbekommen, dass vor allem Afrika Empfänger von ukrainischem Getreide ist und monatelang keine Lieferung mehr dorthin ging.

Wie viele ukrainische Geflüchtete und wie viele Asylbewerber nimmt der Rems-Murr-Kreis jeweils auf?

Blunck: Diese Woche nehmen wir zum Beispiel 150 Ukrainer auf und dazu im ganzen Monat August 78 Asylbewerber. Im April lag die Zahl der Asylbewerber noch bei 20.

Aus welchen Herkunftsländern kommen die Asylsuchenden hauptsächlich?

Göksu: Zurzeit ist die Türkei auf Platz eins unserer Herkunftsländer. Von den 70, 80 Asylbewerbern, die wir im Monat aufnehmen, sind mindestens 30 aus der Türkei. Das hat folgenden Hintergrund: Vor sechs Jahren fand ja dieser vermeintliche Putschversuch in der Türkei statt (Anm. d. Red.: 2016 versuchte ein Teil des türkischen Militärs, die Regierung zu stürzen). Viele der Putschisten oder Anhänger der Gülem-Bewegung wurden damals zu sechs Jahren Haft verurteilt. Die sind jetzt alle freigekommen, haben in der Türkei Berufsverbot und fliehen aus dem Land. Viele kommen auch aus Syrien oder aus Nordmazedonien.

Schaffen Sie es problemlos, alle Schutzsuchenden unterzubringen?

Göksu: Das ist eine große Herausforderung. Wir bekommen immer erst am ersten Werktag eines Monats mitgeteilt, wie viele Asylbewerber wir aufzunehmen haben. Das heißt, es gibt keine Vorlaufzeit für Planungen. Bei den ukrainischen Geflüchteten ist es sogar noch krasser: Da bekommen wir immer montags gesagt, wie viele Menschen wir in der laufenden Woche aufzunehmen haben. Man kann dem Land aber natürlich keinen Vorwurf machen, weil keiner wissen kann, wie viele Busse angerollt kommen.

Die Suche nach Wohnraum

Wie bringen Sie die Menschen unter?

Göksu: Das ist mein Job, zu schauen, wo die Leute langfristig unterkommen können. Denn ich brauche den Platz im Ankunftszentrum ja für die nächste Woche gleich wieder. Sonst müssten wir jede Woche eine neue Halle aufmachen. Ich frage also sofort bei den Kommunen und Privatleuten, die Wohnungen angeboten haben, nach, ob sie Kapazitäten haben. Im besten Fall werden die Leute innerhalb von 48 Stunden einer Anschlussunterbringung zugewiesen.

Schaffen Sie das jedes Mal?

Göksu: Glücklicherweise gelingt uns das ganz gut bisher. Aber es wird von Woche zu Woche schwieriger. Bisher haben wir vom Land immer mit einem Vorlauf von 48 Stunden eine vorläufige Zuweisungsliste bekommen. Da wusste ich ganz genau, wer bei uns im Kreis ankommt – ob jemand zum Beispiel im Rollstuhl sitzt oder einen großen Hund mitbringt. Das zu wissen, ist für die Anschlussunterbringung sehr wichtig. Aber wenn sich die Situation noch mehr zuspitzt, kann es sein, dass wir die Busse irgendwann nur noch vom Land weitergeleitet bekommen.

Auf dem Sportplatz des Beruflichen Schulzentrums Backnang wurde erst kürzlich eine Zeltunterkunft für 300 Geflüchtete errichtet. Wie stehen die Chancen, dass dort tatsächlich Schutzsuchende einziehen werden?

Blunck: Sehr hoch. Laut einer Statistik des Lands Baden-Württemberg lag die Zahl der Asylsuchenden, die im Juli 2020 in Baden-Württemberg angekommen sind, noch bei 606. 2021 hat sich diese Zahl schon fast verdoppelt auf 1106 und jetzt, 2022, sind wir im Juli bei 1817 Zugängen. Die Landeserstaufnahmeeinrichtungen sind voll und das schlägt sich natürlich auf den Kreis nieder.

Voraussichtlich werden bis Mitte 2023 rund 1000 Plätze mehr geschaffen

Wie ist der Rems-Murr-Kreis allgemein mit Unterkünften aufgestellt?

Blunck: Schon 2021 haben wir gemerkt, dass wieder mehr Asylbewerber kommen, und gesagt: Wir müssen mehr Unterkünfte aufbauen. Damals hat natürlich noch keiner etwas von diesem schrecklichen Krieg in der Ukraine geahnt, der das Ganze extrem verschärft hat. Die Bemühungen sind jetzt noch einmal intensiviert worden. Stand jetzt werden wir bis Mitte nächsten Jahres rund 1000 Plätze zusätzlich schaffen. Bis diese verfügbar sind, müssen wir leider temporär mit Notunterkünften, also mit Hallen und auch mit Zelten, arbeiten.

Wo werden die 1000 Plätze entstehen?

Blunck: Sie verteilen sich auf verschiedene Standorte im Rems-Murr-Kreis. Es wird also nicht so sein, dass wir in beispielsweise nur drei Kommunen je 300 bis 400 Plätze in Form von riesigen Unterkünften schaffen.

Wie ist die Lage in den Ankunftszentren? Göksu: Glücklicherweise sind wir da sehr gut aufgestellt. Wir haben echt ein super Team da oben. Deswegen funktioniert das alles auch relativ geräuschlos.

Blunck: Man muss man wirklich sagen: Was die Akteure vor Ort leisten, ist unglaublich. Sowohl die Sozialbetreuung als auch Ehrenamtliche, die sich engagieren. Wir sind generell für das Engagement der Bürgerinnen und Bürger im Landkreis extrem dankbar. Allein wenn man sich vor Augen führt, dass zwei Drittel der ukrainischen Geflüchteten vor allem zu Beginn der Krise von Privatpersonen untergebracht wurden – das ist ein unglaublicher Beitrag.

Die rechtliche Situation der ukrainischen Geflüchteten ist noch nicht ganz klar

Fühlen Sie sich gerade oft an die letzte Flüchtlingskrise zurückerinnert?

Blunck: In vielen Punkten fühlt man sich natürlich zurückerinnert, weil es grundsätzlich wieder dieses Feeling ist: Es ist Flüchtlingskrise, die Zahlen explodieren wieder. Es gibt aber auch bedeutende Unterschiede zu 2015/16. Zum einen haben wir in den letzten fünf Jahren in unseren Unterkünften vor allem Sprachen wie Farsi, Arabisch oder auch afrikanische Sprachen gehört. Jetzt geht es plötzlich darum, dass wir vor allem auf Russisch Information und Kommunikation anbieten. Und dann ist die rechtliche Situation der ukrainischen Geflüchteten noch nicht abschließend geklärt, weil ihr Aufenthalt in Deutschland nach der sogenannten EU-Massenzustromsrichtlinie verläuft, die das baden-württembergische Flüchtlingsaufnahmegesetz nicht kennt. Durch die EU-Massenzustromsrichtlinie genießen die Geflüchteten außerdem besondere Rechte, während 2015/16 nach den bereits etablierten Gesetzen verlief.

Profitieren Sie von Ihrer Erfahrung?

Göksu: Der große Vorteil jetzt ist, dass wir als Team wirklich krisenerprobt sind. Und dass wir im Kreis sehr gut vernetzt sind.

Blunck: Dieser Erfahrungsschatz aus der ersten Flüchtlingskrise hilft uns total. Und das gilt glücklicherweise genauso für unsere Hausspitze. Nach seinem Amtsantritt 2015 musste Landrat Richard Sigel ja gleich die Flüchtlingskrise managen. Wir müssen ihm nicht erst erklären, was Flüchtlingskrise bedeutet. 2015/16 war die letzte Krise 25 Jahre her, da gab es keinen mehr in der öffentlichen Verwaltung, der das miterlebt hatte. Dementsprechend war das ein kollektives Lernen. 2015/16 wurde der Flüchtlingsbereich im Landratsamt quasi aus dem Nichts neu geschaffen. Da kam eine „Koalition der Willigen“ zusammen, so haben wir sie damals genannt. Das waren alles Leute, die haben sich einen Monat zuvor zum Beispiel noch mit Führerscheinzulassungen beschäftigt. Jetzt haben wir einen festen Kern aus Mitarbeitern, die genau wissen, wie Flüchtlingsunterbringung funktioniert.

„Das machen wir nicht mit links“

Wie gut hat der Rems-Murr-Kreis die Flüchtlingskrise 2015/16 überstanden?

Blunck: Bis zum Ende der Flüchtlingskrise haben wir im Rems-Murr-Kreis über 8000 Menschen untergebracht. Das haben wir trotz Schwierigkeiten mit großer Kraftanstrengung gut bewältigt.

Wie geht es Ihnen persönlich in dieser herausfordernden Situation und wie wirkt sich diese auf Ihr Team aus?

Blunck: Also, ich sage mal so: Es ist natürlich so, dass diese Flüchtlingskrise auch uns fordert. Das machen wir nicht mit links. Aber man hat auch ein bisschen das Gefühl, dass man in der Flüchtlingskrise als Team wieder richtig zeigen kann, was man kann.

Das Gespräch führte Melanie Maier.

Zahlen In den Flüchtlingsunterkünften des Kreises sind dem Landratsamt zufolge derzeit 1386 Schutzsuchende untergebracht. Zusätzlich befinden sich 89 Personen im Ankunftszentrum in der Halle des Berufsbildungswerks (BBW) in Waiblingen und 44 in der Sporthalle des beruflichen Schulzentrums (Stand: 24. August). Die Bewohnerinnen und Bewohner des Kreises teilen sich auf folgende Standorte auf: Alfdorf (14), Allmersbach im Tal (98), Althütte (30), Aspach (51), Fellbach (184), Kirchberg an der Murr (68), Leutenbach (97), Murrhardt (53), Plüderhausen (114), Rudersberg (54), Schorndorf (133), Schwaikheim (32), Waiblingen (127, +133 in den Ankunftszentren), Weinstadt (147), Weissach im Tal (21), Welzheim (40), Winnenden (26), Winterbach (97). Foto: privat Foto: privat
Steffen Blunck und Melih Göksu

„Die Zahlen der Geflüchteten explodieren wieder“

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Steffen Blunck Seit April 2019 leitet Steffen Blunck das Team für die Flüchtlingsaufnahme im Rems-Murr-Kreis. Damit ist er für die Bereiche Unterbringung, Sozialbetreuung und Integration von Geflüchteten verantwortlich. Der 30-Jährige wurde in Köln geboren und wohnt in Bad Cannstatt. Er studierte Public Management an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung Kehl. Seit Anfang 2016 ist er im Landratsamt Rems-Murr-Kreis tätig, seit Mitte 2016 im Flüchtlingsbereich.

„Die Zahlen der Geflüchteten explodieren wieder“

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Melih Göksu Seit 2015 ist Melih Göksu als Unterbringungsmanager beim Landratsamt für die Belegung der Flüchtlingsunterkünfte zuständig. Der 31-Jährige ist in Stuttgart geboren, wo er bis heute lebt. Göksu hat eine Ausbildung bei einer Bank absolviert. Anschließend wechselte er ins Landratsamt des Kreises, wo er Berufserfahrung im Jobcenter und in der KFZ-Zulassungsstelle sammelte.

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Erstellt:
30. August 2022, 06:00 Uhr

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