Ein Dorf in einem Haus
Das Mehrgenerationenhaus auf dem Areal des ehemaligen Kreiskrankenhauses in Backnang ist inzwischen beinahe voll bezogen. Die Bewohner sind eine bunte Truppe und legen sehr viel Wert auf Gemeinsamkeit und ein wirkliches Miteinander.
Von Matthias Nothstein
Backnang. Mehrgenerationenhaus – der Begriff ist nicht geschützt und wird vielfach gedankenlos benutzt. Dann stellen Investoren ein großes Haus mit mehreren Wohnungen hin, vielleicht noch mit einem Gemeinschaftsraum oder einer Gemeinschaftsküche und einer Hausordnung, wonach Kinderlachen gerne gehört werde und dass Jung und Alt bittschön sich gegenseitig befruchtend zusammenleben wollen. Oder sollen. Fertig.
Von solch einem unverbindlichen und oft inhaltslosen Modell ist das Mehrgenerationenhaus auf dem Areal des früheren Kreiskrankenhauses Backnang mit dem Titel „Wohnen im Quartier“ meilenweit entfernt. Die über 50 Bewohner des Doppelbauwerks bilden in der Tat eine bunte Truppe und wollen ganz reell zusammen leben. Klar, jeder mit seiner eigenen Wohnung, aber doch nicht isoliert. Natürlich gibt es im Erdgeschoss einen Gemeinschaftsraum. Aber er ist auch tatsächlich mit Leben gefüllt. Wie ernst es die Bewohner mit dem Miteinander meinen, das wird bei der langen Entstehungsgeschichte des Projekts deutlich. Die Anfänge reichen bis in das Jahr 2013 zurück. Dass die ersten Bewohner erst diesen Sommer eingezogen sind, heißt deshalb nicht, dass die Initiatoren nichts auf die Reihe bekommen, sondern im Gegenteil, dass sie besonders viel Engagement aufgebracht haben und dass sie ihr Projekt mit viel Tiefgang ausgestattet haben. Nicht jeder, der wollte, wurde als Investor oder Mieter mit ins Boot gelassen. Vielmehr musste die Gesinnung stimmen. Dass nämlich wirklich Interesse an einem lebendigen Miteinander besteht. Jetzt aber ist es nach acht Jahren Vorlauf endlich so weit. Zuletzt wurde Wohnung für Wohnung bezogen, nun sind alle 27 Wohneinheiten vergeben. Okay, zwei Wohnungen stehen noch leer, aber die Umzüge sind schon terminiert.
„Jetzt ist alles genau so, wie wir uns das vorgestellt haben“
Rolf und Sonja Janert waren die Einzugspioniere. Als sie am 2. Juni als Erste mit ihren Umzugskartons anrückten, fanden sie sich auf einer Baustelle wieder. Statt einer schmucken Eingangstür sorgte noch eine massive Bautür für den Gebäudeabschluss. Alle Fassaden waren noch von Gerüsten umzingelt, die Fenster mit Folien beklebt, die Aufzüge liefen nicht. Steckdosen? Sonja Janert winkt ab, mit sechs Monaten Abstand kann sie über deren Fehlen lächeln. Inzwischen ist das Paar glücklich mit der neuen Wohnung, die es selbst mitplanen konnte. Sonja Janert: „Alles ist jetzt genau so, wie wir uns das vorgestellt haben. Die Architekten waren ein Glücksgriff. Sie sind auf alle unsere Wünsche eingegangen.“
„Das Miteinander im Haus läuft noch besser, als ich erwartet hätte“, freut sich Elke Gassen, die zu den Initiatoren des Projekts gehört. Die 60-Jährige berichtet, dass die Bewohner eine Messenger-Gruppe gegründet haben und diese sehr rege nutzen. Ständig gibt es auf der App Angebote und Nachfragen. Gassen nennt ein konkretes Beispiel. „Ich bringe heute Äpfel aus meinem Garten mit, weil die Abfrage ergeben hat, dass drei Familien sehr daran interessiert sind.“ Das funktionierende Miteinander zeigte sich auch, als kürzlich eine Taufe gefeiert wurde. Da damals der eigene Gruppenraum noch nicht fertig war, hat das benachbarte Demenzhaus seine Cafeteria zur Verfügung gestellt. In das Fest war dann eine Reihe der Mitbewohner involviert. Egal ob Tortenplatten oder Käsebretter, ob Gläser oder Kuchen, irgendwie wurde alles wie in einer großen Familie organisiert. Und jeder Helfer war dann auch als Kaffeegast bei der Feier dabei. Das Engagement gilt aber auch fürs richtige Schaffen. Gassen erzählt, dass eines Morgens in der Gruppe angekündigt wurde, dass Bauschutt abgefahren werden muss, und am Nachmittag war alles erledigt. „Das ist immer so.“
In den Fenstern des Gemeinschaftsraums und an den Türen hängt eine Vielzahl an Zetteln, auf denen Arbeitsgruppen aufgelistet sind, samt Mitgliedern und Arbeitsfeld. Eine Gruppe kümmert sich um den Garten. Dieser konnte bislang ebensowenig angelegt werden wie die restlichen Grün- oder Außenanlagen. Doch dann ging eine E-Mail rum: „Wir wollen pflanzen, wer ist dabei?“ Wenn dann die Schaffer loslegen, ist die Aktion auch immer verbunden mit einem gemeinsamen Frühstück oder einer Kaffeetafel. „Das Gesellige kommt bei uns nicht zu kurz“, lacht Gassen. Sie hält sich beim Buddeln raus, „das Knie macht da nicht mehr mit“, dafür sorgt sie für den Kaloriennachschub. Und sie freut sich, dass das Miteinander über alle Generationen hinweg funktioniert. „Wir wussten am Anfang auch nicht, ob das klappt.“ Martina Unold hat eine Erklärung, warum es das tut: „Wir diskutieren viel und lange und aus verschiedenen Richtungen. Einen richtigen Streit gab es noch nie, wir haben eine sehr gute, wertschätzende Gesprächskultur.“
Mit ihrem Einzug in das Mehrgenerationenhaus ist für Arijana Michelakis „ein Träumchen“ in Erfüllung gegangen. Die 39-Jährige kennt Nähe, sie hat bis zu ihrem 17. Lebensjahr mit ihrer Oma ein Zimmer geteilt. Und sie kennt Ferne. Nämlich aus der Zeit, als sie berufsbedingt die Backnanger Heimat verlassen musste. Lange hat sie mit ihrem Mann vergebens nach einem Haus gesucht. Als ihr Mann dann einmal sagte, er habe eine Wohnung gefunden, „aber sie wäre in einem Mehrgenerationenhaus“, konterte sie sofort: „Was heißt hier aber, das ist genau das, was ich wollte.“
Die beiden jungen Mütter wollen sich gegenseitig helfen
Beim ersten Treffen hat es laut Michelakis sofort gefunkt, „das hier ist wie ein Dorf in einem Haus“. Die Mutter des einjährigen Emmanouil weiß es zu schätzen, dass mit Galina Kunz eine zweifache Mutter gleich nebenan wohnt. Die beiden Frauen haben schon besprochen, sich gegenseitig zu helfen. Kunz hat vor einem Jahr erstmals Interesse an der Wohnform bekundet und erklärt jetzt: „Wir sind alle da, weil wir alle die gleichen Interessen haben.“ Flexibel ist die Gemeinschaft auch beim Finanzengagement. So sagt Kunz: „Wir wollten als Eigentümer einsteigen, jetzt sind wir Mieter.“
Ähnlich verhält es sich auch bei Karl Schmid. Er hat eine Wohnung gekauft, in der nun die Tochter wohnt. Wenn diese mehr Platz benötigt, weil die Familie wächst, soll sie das Eigenheim der Eltern übernehmen, und dann ziehen SchmidsSenior in die Wohnung. Als quasi „noch Außenstehender“ schwärmt Schmid vom Konzept. „Es ist hier ein Geben und Nehmen, ohne dass einer ein schlechtes Gewissen haben muss. Keiner braucht zu meinen, dass er Empfangenes in den nächsten zwei Wochen ausgleichen muss.“ Und was passiert, wenn sich abzeichnet, dass einer immer nur nimmt und nie gibt? Schmid: „Dann wird dieser angesprochen. Geplant ist ohnehin, dass eine der vielen Arbeitsgruppen sich als Streitschlichter oder Mediatorenteam um solche Fälle kümmert.“
Viel basiert auf Vertrauen. So stehen im Waschraum ein halbes Dutzend Waschmaschinen sowie einige Trockner. Alle Geräte wurden von den Bewohnern zur Verfügung gestellt. Wasseruhren und Stromzähler fehlen. Jeder trägt seine Waschgänge in eine Liste ein und zahlt eine Pauschale. Wie hoch die ist, steht noch nicht fest. „Aber das ist auch nicht so wichtig, wir finden da schon eine Lösung“, ist Gassen überzeugt.
Wohnungen Im Mehrgenerationenhaus „Wohnen im Quartier“ gibt es 27 Wohneinheiten mit insgesamt 2500 Quadratmetern Wohnfläche.
Das Projekt Das erste Treffen der Initiatoren fand bereits 2013 statt, das Grundstück im Bonhoeffer-Areal wurde Anfang 2019 gekauft, im Sommer desselben Jahres war Baubeginn. Der Erstbezug fand im Sommer 2021 statt. Derzeit sind alle Wohnungen vergeben, im Frühjahr 2022 wird eine Wohnung frei. Auf dem Dach sind Fotovoltaikanlagen mit einer Leistung von 59 kW/Peak montiert, der Strom wird selbst genutzt. Trotz der Anlage gibt es noch Platz für eine Dachterrasse, die aber noch nicht fertig ist. Es existieren 38 Stellplätze in einer Tiefgarage.
Altersstruktur Insgesamt leben 51 Bewohner im Alter zwischen null und 83 Jahren in dem Doppelgebäude. Davon sind sieben Kinder unter acht Jahren. Neben einer Jugendlichen gibt es noch 15 Bewohner unter 35 Jahren,
acht Bewohner unter 60 Jahren und 20 Bewohner über 60 Jahre.
Autofrei Derzeit wird im Quartier wild geparkt. Sobald die Bauarbeiten abgeschlossen sind – das Mehrgenerationenhaus ist das letzte Projekt in dem Areal –, wird das gesamte Quartier autofrei. Poller werden montiert, die Zufahrt auf den Quartiersplatz ist dann nur noch für Not- und Lieferdienste möglich.
Kontakt Mehr Informationen gibt es unter www.wohnen-im-quartier-backnang.de.