Ein Tablet macht noch keinen Unterricht

Murrhardter Hörschbachschule hat sich als Referenzschule des Rems-Murr-Kreises für Medienbildung auf den Weg gemacht

Mit einem kurzen, eindringlichen Video verdeutlicht Professor Dr. Thomas Irion, Direktor des Zentrums für Medienbildung an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd, wie sehr Kinder die Welt der digitalen Medien erobern wollen. Während sich ein Mädchen über das Geschenk eines Smartphones so freut, dass es zu Tränen gerührt ist, geht es dem Bruder ziemlich schlecht. Er kann seinen Frust darüber, leer ausgegangen zu sein, kaum bändigen.

„Es war beeindruckend, wie schon Erstklässler ihren eigenen Film beurteilt und in konstruktiver Weise kritisiert haben.“Rektorin Melanie Luithardt

© Jörg Fiedler

„Es war beeindruckend, wie schon Erstklässler ihren eigenen Film beurteilt und in konstruktiver Weise kritisiert haben.“ Rektorin Melanie Luithardt

Von Christine Schick

MURRHARDT. Was früher das Fahrrad war, ist heute das Smartphone. „Das ist unsere Welt, und Kinder wollen in die Welt hinaus“, sagt Thomas Irion. Fachleute der Medienpädagogik, Lehrer, Eltern und Vertreter der Stadt Murrhardt haben sich an der Hörschbachschule zusammengefunden, um sich auszutauschen und am begonnen Projekt weiterzuarbeiten: Die Murrhardter Grundschule hat sich als Referenzschule für Medienbildung im Rems-Murr-Kreis auf den Weg gemacht, nimmt somit eine Vorreiterrolle ein und soll ihre Erfahrungen auch anderen Kollegen zugänglich machen.

Beim ersten Referenzschulnachmittag, an dem auch das offizielle Zertifikat überreicht wird, spricht Irion in seinem Vortrag Grundsätzliches an, hält Einschätzungen bereit und gibt Tipps. Er lässt keinen Zweifel daran, dass sich unsere Lebenswelt mit der Digitalisierung drastisch verändert hat und weiter verändern wird. Seine Beispiele: Praktisch jeder ist heute via Smartphone zum medialen Sender und Empfänger geworden, die Entgrenzung der Arbeitswelt, enthemmte Kommentare auf digitalen Plattformen, Omnipräsenz von Messung und Überwachung, ein Online-Handel, der die analoge Geschäftswelt unter Druck setzt, oder Schönheitsideale, die durch Photoshop-Bearbeitung weiter gesteigert werden. „Der gesellschaftliche Wandel verläuft rasant, wir befinden uns zurzeit im Wilden Westen der Digitalisierung.“ Gerade deshalb ist für ihn die Medienbildung auch mit Blick auf einen künftigen, kompetenten Umgang bereits in Grundschulen so wichtig. „Wir brauchen sie, damit die Menschen später selbstbestimmt am Leben, an Politik und Kultur, teilnehmen können.“

Was den konkreten Einsatz von Medien im Unterricht anbelangt, plädiert der Fachmann für ein Herangehen, das von pädagogischen Überlegungen und Zielen geleitet ist. Welche Inhalte lassen sich durch welche Mittel vermitteln? Wird das Lernen durch einen Medieneinsatz leichter und besser? Voraussetzungen für einen Lernerfolg seien Computerkenntnisse, aber eben auch die Einstellung, sprich Lernbereitschaft, spiele die zentrale Rolle. Wenn Medien dabei helfen, Interesse zu wecken und Lernen (im Sinne von Verarbeitungstiefe) zu fördern, macht ihr Einsatz Sinn. Gerade angesichts der vielen Möglichkeiten, die beispielsweise ein Tablet bereithält, rät Irion zu einem gewissen Pragmatismus und einer Beschränkung aufs Wesentliche. Man brauche „keine Technikfreaks, sondern didaktisch engagierte Lehrer, die etwas bewegen wollen“.

Konkrete Beispiele wie das Erstellen von kurzen Filmen und multimedialen Präsentationen oder ein Bilderbuchkino sind auch genau die Möglichkeiten, die die Hörschbachschule bereits im Unterricht ausprobiert hat. Rektorin Melanie Luithardt erzählt, dass die Viertklässler eine biblische Geschichte in Bild und Ton umgesetzt und die Erstklässler Stop-Motion- Filme – digitales Daumenkino – produziert haben. Auch erste Programmierschritte, Internetrecherche und der Umgang mit dem neu installierten Schulnetz gehörten dazu. Dabei tatkräftig unterstützt haben die Schule das Kreismedienzentrum Rems-Murr genauso wie deren Kollegen auf Landesebene, sei es mit der Möglichkeit, iPads auszuleihen, oder sich Beratung und Begleitung abzuholen.

Die Einschätzung, dass Medienbildung wichtig ist, wenn man Kinder in ihrer Lebenswelt abholen will, teilten in der Bewerbungsphase der Schule nicht alle Eltern, wie die Rektorin berichtet. „Die Kinder verbringen doch schon viel zu viel Zeit damit“, so eine typische Rückmeldung, oder umgekehrt der Eindruck, dass die Digitalisierung im Alltag doch gar nicht so eine große Rolle spiele. Melanie Luithardt hält dagegen: Es ginge nicht darum, die Kinder beschäftigt zu halten und mit Medien allein zu lassen, sondern darum, sie auf einen kritischen, zielgerichteten Umgang vorzubereiten. Und da spielt auch der Alltag eine Rolle: Was heißt es zum Beispiel, wenn ein Mädchen oder Junge auf dem Pausenhof mit dem Handy filmt und die Sequenz vielleicht weitergibt?

Für das künftige Arbeiten als Referenzschule sei es wichtig, sich gemeinsam mit der Technik und den Möglichkeiten auseinanderzusetzen, wobei die Rektorin ein kritisches Hinterfragen als äußerst wertvoll erachtet. Dass die Kinder nach kürzester Einführung hoch motiviert an die Sache herangehen, bedeutet nicht, dass das soziale Lernen in den Hintergrund tritt. Wenn die Grundschüler in Kleingruppen an einem iPad arbeiten, müssen sie sich absprechen und erklären sich im Idealfall Dinge auch gegenseitig. Für Melanie Luithardt und ihre elf Kolleginnen heißt der kommende Alltag auch, Mädchen und Jungen an die Technik heranzuführen. „Da können wir Jungs oft in ihren Interessengebieten abholen“, sagt sie. Zudem sei sie absolut beeindruckt gewesen, wie schon Erstklässler ihr Medienprodukt – einen Stop-Motion-Film – beurteilt und in konstruktiver Weise kritisiert haben.

Für Ralf Nentwich, Leiter des Kreismedienzentrums, hat die Hörschbachschule den Zuschlag als Referenzschule im Kreis von zehn Bewerbern zu Recht erhalten – zum einen, weil sie das motivierteste Kollegium habe, zum anderen, weil sie in puncto Ausstattung quasi bei null anfangen musste. Nachdem ein Schulnetz installiert war, habe man in intensiver Zusammenarbeit verschiedene Möglichkeiten ausprobiert und die Umsetzung geplant. Zudem unterstützt die Stadt Murrhardt mit der Anschaffung neuer Geräte, Laptops und Beamer, wie Bürgermeister Armin Mößner informiert (wir berichteten). Nentwich ist der Überzeugung, dass es auch künftig darum geht, Technik und Medien als Handwerkzeuge einzusetzen. Das mit verschiedenen Programmen ausgestattete, mobile Tablet vergleicht er in diesem Sinne mit einem Schweizer Taschenmesser.

Was das Kreis- und Landesmedienzentrum dabei noch an ausgefuchsten Materialien, Programmen und Hilfsmitteln zur Verfügung stellen können, zeigen die Mitarbeiter am Nachmittag in einzelnen Workshops. Ebenso stellen Susanne Scharfenberg und Svenja Erken von der Hörschbachschule Aspekte ihrer bisherigen Erfahrungen vor. Dabei wird auch deutlich, dass die Kinder nicht nur vor dem Bildschirm sitzen, sondern experimentell gefordert sind. Das Projekt „Wir sind Hirnforscher“ beispielsweise lässt Schüler einzelne Gehirnteile über einen kleinen Roboter genauso erkunden wie die Oberflächenstruktur des Kortex anhand spezifischer Materialien. Ebenfalls auf den forschenden Geist abgesehen hat es ein Programm namens Lego We Do 2.0, mit dem sich ganze Experimentierszenarien aufbauen und programmieren lassen, wie ein Erdbebensimulator. So können Schüler beispielsweise bestimmte Hausbautypen auf ihre Standfestigkeit überprüfen.

Medienbildung Info Die Hörschbachschule hat nun auch ihr Zertifikat als Referenzschule des Kreismedienzentrums und Landesmedienzentrums Baden-Württemberg erhalten. Bereits im vergangenen Jahr hat sie sich intensiv auf die kommende Arbeit mit den beiden Partnern vorbereitet, um den Einsatz verschiedener digitaler Medien im Unterricht auszuprobieren. Parallel läuft die Ausstattung der Schule mit Laptops und Beamern, für die die Stadt Murrhardt rund 50000 Euro bereithält. Als Referenzschule soll sie Impulse geben und das Wissen an andere Grundschulen im Rems-Murr-Kreis weitergeben. Digitale Medien wie Internet, Computer und Smartphones sind heute selbstverständlicher Bestandteil der Lebenswelt von Kindern im Grundschulalter. Nach Erhebungen des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest besitzt mittlerweile fast jeder zweite 6- bis 13-Jährige ein Smartphone und hat damit nahezu uneingeschränkten Zugang zum Internet. Um die Kinder einerseits auf die vielfältigen positiven Möglichkeiten der Medien vorzubereiten und sie andererseits vor möglichen schädigenden Einflüssen zu schützen, ist eine grundlegende Medienbildung bereits in der Grundschule unverzichtbar, so die Einschätzung der Medienfachleute und Verantwortlichen im Kreis.
„Wir brauchen keine Technikfreaks, sondern didaktisch engagierte Lehrer, die etwas bewegen wollen.“Professor Dr. Thomas Irion

© Jörg Fiedler

„Wir brauchen keine Technikfreaks, sondern didaktisch engagierte Lehrer, die etwas bewegen wollen.“ Professor Dr. Thomas Irion

Für den Grundschulunterricht gibt es mittlerweile spannende, didaktisch ausgefeilte (Medien-)Programme. Beim Referenzschulnachmittag an der Hörschbachschule haben Mitarbeiter des Kreis- und Landesmedienzentrums einige in Workshops vorgestellt. Hier zeigt Ralf Nentwich, Leiter des Kreismedienzentrums (Mitte), gerade Herrn Ti vom Projekt Hirnforscher. Der kleine Roboter führt Kinder in die Funktionen einzelner Gehirnteile ein. Fotos: J. Fieder

© Jörg Fiedler

Für den Grundschulunterricht gibt es mittlerweile spannende, didaktisch ausgefeilte (Medien-)Programme. Beim Referenzschulnachmittag an der Hörschbachschule haben Mitarbeiter des Kreis- und Landesmedienzentrums einige in Workshops vorgestellt. Hier zeigt Ralf Nentwich, Leiter des Kreismedienzentrums (Mitte), gerade Herrn Ti vom Projekt Hirnforscher. Der kleine Roboter führt Kinder in die Funktionen einzelner Gehirnteile ein. Fotos: J. Fieder

Zum Artikel

Erstellt:
14. Juni 2018, 06:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen