Eine Klasse mit zwei Abschlüssen an Realschulen

Seit einigen Jahren können Realschüler, welche die Versetzung nicht schaffen würden, trotzdem in ihrer Klasse bleiben, auf Hauptschulniveau weiterlernen und dann in der 9. Klasse ihren Abschluss machen. Das hat für die Schüler Vor- und Nachteile.

Keine Versetzung? Das muss nicht tragisch sein. Symbolfoto: contrastwerkstatt/Stock-Adobe

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Keine Versetzung? Das muss nicht tragisch sein. Symbolfoto: contrastwerkstatt/Stock-Adobe

Von Kristin Doberer

Rems-Murr. Das Schuljahr ist fast zu Ende, die meisten Schülerinnen und Schüler freuen sich auf die Sommerferien. Für einige ist die Zeugnisausgabe aber kein Grund zur Freude. Wenn nämlich zu viele schlechte Noten auf dem Zeugnis stehen und die Versetzung in die nächsthöhere Klasse nicht geschafft wird, stellt sich die Frage, wie es weitergeht. „Sie haben dann zwei Möglichkeiten: Entweder sie wiederholen die Klasse oder werden auf G-Niveau versetzt“, erklärt Christian Zeller, Realschulrektor am Weissacher Bildungszentrum (Bize).

An den Realschulen gibt es seit der Einführung des Bildungsplans von 2016 nämlich die Möglichkeit, trotzdem mit seinen Klassenkameraden vorzurücken – allerdings nicht auf dem mittleren Niveau (M) Richtung Realschulabschluss, sondern auf einem grundlegenden Niveau (G) bis zum Hauptschulabschluss. „Diese Entscheidung fällt man ab der 7. Klasse jedes Jahr mit dem Zeugnis“, sagt Timm Ruckaberle, Schulleiter der Max-Eyth-Realschule (MER) in Backnang. Bei manchen Schülern ergebe eine Wiederholung nur wenig Sinn, weil sie sich grundsätzlich mit dem M-Niveau schwertun. Auch in späteren Klassen können Schüler dazustoßen, die nicht auf dem Realschulniveau wiederholen möchten.

8,5 Prozent Realschüler wählen G-Niveau

Im Rems-Murr-Kreis gehen etwa 350 Schülerinnen und Schüler diesen Weg, das entspricht etwa 8,5 Prozent der Realschüler. Im aktuellen Schuljahr haben rund 130 die Hauptschulprüfung abgelegt, teilt das Schulamt Backnang mit. Grundsätzlich bewerten die Rektoren diese Möglichkeit als sehr positiv: „Schüler können in ihrer Klasse und in ihrer gewohnten Umgebung bleiben. Sie müssen nicht die Schule wechseln und einen Neustart machen, wie das früher der Fall war“, sagt Zeller. Bis zum Ende der 8. Klasse bleiben die G-Schüler integrativ in ihrer Klasse, die Inhalte, die gelernt werden, bleiben gleich, lediglich der Schwierigkeitsgrad wird angepasst. „Übungen und Klassenarbeiten sind deutlich leichter“, sagt Zeller.

Seit die Hersteller der Schulbücher sich darauf eingestellt haben, sei der Aufwand für die Lehrkräfte auch nicht mehr ganz so hoch. So gebe es in den Schulbüchern mittlerweile auch anders gekennzeichnete Aufgaben für Kinder, die auf G-Niveau lernen. Dem stimmt auch Ruckaberle zu. Gerade Schülern, die schon in der 6. oder 7. Klasse mit dem Realschulniveau kämpfen, sei eine Erleichterung anzumerken, wenn sie ab der 7. Klasse dann die vereinfachten Aufgaben bekommen. „Sie haben dann endlich Erfolgserlebnisse“, sagt Ruckaberle.

Für die Schulen aufwendig, wird es aber ab der Klasse 9. Denn zum einen bereiten sich die Jugendlichen auf G-Niveau dann schon auf ihre Abschlussprüfungen vor, zum anderen weicht in dieser Jahrgangsstufe der Bildungsplan von dem der Realschüler ab, wenn auch nur im Fach Mathematik. „Wir müssen also einen Mathekurs mehr bilden“, sagt Zeller. Da in diesem Jahr zum Beispiel nur sechs Schülerinnen und Schüler aus den drei 9. Klassen einen Hauptschulabschluss angestrebt haben, bestand ein Kurs eben auch nur aus diesen sechs Jugendlichen. „Das sind vier Schulstunden, die wir nicht vom Schulamt bekommen“, sagt Zeller. Das zu organisieren, wo doch ohnehin schon Lehrkräfte fehlen, sei nicht einfach.

Mit dem Abschlussjahr der G-Schüler gehen die Realschulen unterschiedlich um

Das weiß man auch im Schulamt Backnang: Wie man mit der Differenzierung umgeht, das hänge ganz von der Größe der Schule und von der Lehrerverteilung ab. Gibt es in einem Schuljahr zum Beispiel viele Mathelehrer, sei eine Differenzierung in dem Fach einfacher als wenn ohnehin nur wenige Lehrer Mathe unterrichten können, erklärt Helmut Bauer vom Schulamt.

Mit dem Abschlussjahr der G-Schüler gehen die Realschulen also unterschiedlich um. Während am Bize eben nur ein Mathekurs ausgelagert wird, werden an anderen Schulen mit mehr G-Schülern ganz neue Klassen gebildet. So zum Beispiel an der Backnanger Max-Eyth-Realschule. In den 7. und 8. Klassen sind sie integrativ bei den M-Schülern, in der 9. Klasse bildet sich eine eigene G-Klasse in den Kernlernbereichen neu. „Bei uns ist das schon seit Jahren gängige Praxis. So wollen wir die Schüler bestmöglich auf den Abschluss vorbereiten“, sagt Schulleiter Timm Ruckaberle. In diesem Schuljahr waren es elf Schülerinnen und Schüler, die einen Hauptschulabschluss an der MER gemacht haben (91 strebten den Realschulabschluss an).

Keine Klassengemeinschaft

Dieses Vorgehen sorgt aber zum Teil für Kritik. „Die werden einfach neu zusammengewürfelt, mit Schülern, die sich untereinander gar nicht kennen“, sagt Karl-Heinz Waibler, dessen Sohn in diesem Jahr den Hauptschulabschluss an der MER gemacht hat. „Da bildet sich gar keine Klassengemeinschaft und das im so wichtigen Abschlussjahr, wo es auf die Leistung ankommt“, kritisiert der Vater.

Der Kritik stimmt Ruckaberle teilweise zu. „Die Neubildung ist sportlich und am Anfang ist das für die Schüler natürlich heftig“, sagt er. Das Zusammenfinden werde aber pädagogisch begleitet. Auch überwiegen die Vorteile, so Ruckaberle: „Sie sind in einer viel kleineren Klasse, die Kollegen können gezielter auf den Abschluss vorbereiten.“ Für manche sei es auch das erste Mal in ihrer Schullaufbahn, dass sie nicht zu den Schwächsten in der Klasse gehören.

Deutlich schwieriger sei diese Einstufung auf unterschiedliche Niveaus für die Schüler selbst. „Die Lehrkräfte versuchen, das bei der Verteilung von Arbeiten oder Aufgaben nicht zu thematisieren. Wir wollen nicht, dass die Kinder sich als ‚die Schlechten‘ sehen“, sagt Christian Zeller. Obwohl man hier mit viel Fingerspitzengefühl vorgeht, sei eine gewisse „Abstempelung“ schwer zu vermeiden. „Vereinzelt gibt es von anderen Schülern schon Spitzen“, sagt auch Ruckaberle.

Aber grundsätzlich sei die Stimmung unter den Jugendlichen der verschiedenen Niveaus gut, „auch weil sie so lange in einer Klassengemeinschaft zusammen waren“. Auch er sieht das Problem vielmehr darin, dass bei manchen das Selbstbewusstsein leidet, sobald sie sich für den Weg zum Hauptschulabschluss entscheiden. „Man spürt, dass manche sagen: ‚Ich bin ja nur ein G-Schüler.‘ Aber wir versuchen auch klarzumachen, dass das mit ihrem Wert nichts zu tun hat“, sagt Timm Ruckaberle.

Kritik an fehlender Abschlussfahrt

Weitere Kritik übt Vater Karl-Heinz Waibler außerdem beim Thema Klassenfahrt. Während die Zehntklässler nach Berlin fahren, habe man die G-Schüler einfach „vergessen“. Vor dem Abschluss habe es lediglich eine Übernachtung auf dem Eschelhof gegeben, bei der auch gelernt wurde. Durch all das verbinde sein Sohn nun kaum positive Erfahrungen mit seinem Abschluss.

„Das hat organisatorische Gründe“, erklärt Ruckaberle. Die Fahrt nach Berlin müsse früh gebucht werden. Es sei aber schwer abzuschätzen, wie viele Schüler den Hauptschulabschluss machen, da auch am Ende der 8. Klasse noch welche dazukommen können. „Aber bei allen anderen Schulausflügen sind sie dabei.“ Es gebe aber Überlegungen, das Schullandheim auf den Anfang der 9. Klasse zu legen, um den Zusammenhalt am Beginn zu stärken. Am Bize gibt es beispielsweise in der 9. Klasse eine Englandfahrt für alle. „Das ist für die G-Schüler dann auch die Abschlussfahrt“, so Schulleiter Zeller.

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Erstellt:
25. Juli 2023, 06:00 Uhr

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