Empathie ist wichtiger als das Geschlecht

Marcel Pipero ist in seinem ausbildungsintegrierenden Studium allein unter Frauen. Der 21-Jährige lernt Hebammenwesen und ist fasziniert vom Themenkomplex Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett. Dass er ein Mann ist, spielt im Berufsalltag kaum eine Rolle.

Zu Beginn seiner Ausbildung, als Corona noch kein Thema war, war das möglich: Marcel Pipero bekommt von seiner Lehrerin Felicitas Kley Unterricht in anschaulichen Situationen rund um Schwangerschaft und Geburt. Foto: Bildungszentrum für Gesundheitsberufe

Zu Beginn seiner Ausbildung, als Corona noch kein Thema war, war das möglich: Marcel Pipero bekommt von seiner Lehrerin Felicitas Kley Unterricht in anschaulichen Situationen rund um Schwangerschaft und Geburt. Foto: Bildungszentrum für Gesundheitsberufe

Von Nicola Scharpf

WINNENDEN. Marcel Piperos Ururgroßtante ist Amme in ihrem Heimatdorf gewesen. Als Kind schon hat er ihren Erzählungen rund um die Themen Geburt und Stillen gern gelauscht. Auch sein Spielzeug-Arztköfferchen hat der Junge viel bei sich gehabt, um seine Mitmenschen zu verarzten oder ihre Herztöne abzuhören. Die Ursprünge von Marcel Piperos heutiger Berufswahl reichen definitiv bis in seine Kindheit zurück. An der Hebammenschule in Winnenden, die Teil des Bildungszentrums für Gesundheitsberufe Rems-Murr ist, absolviert der 21-jährige Augsburger seit 2019 die Ausbildung im Hebammenwesen im Rahmen des entsprechenden ausbildungsintegrierenden Bachelor-Studiums. Der junge Mann ist dabei allein unter Frauen. Weder in seinem Jahrgang noch in dem des Vorjahres hat es einen männlichen Studenten des Hebammenwesens gegeben. Im gesamten Bundesgebiet gibt es nach Angaben des Statistischen Bundesamts lediglich sechs examinierte männliche Hebammen, zwei davon in Baden-Württemberg.

Sein Beruf erfüllt Marcel Pipero mit Dankbarkeit und Ehrfurcht.

Getrost kann man Marcel Pipero zwar als Exoten bezeichnen. Dass er als Mann einen Beruf erlernt, der fest in Frauenhand ist, spielt im Arbeitsalltag für den Pionier im Kreißsaal aber kaum eine Rolle. „Ich werde einfach als Hebamme angesehen“, sagt er – genauer: als WeHe, so die Abkürzung für die geschlechtsneutrale Berufsbezeichnung Werdende Hebamme. „Ich versuche, mich dezent zu verhalten, um nicht den Eindruck zu erwecken: Was ist denn das für ein komischer Kauz mit dunklen Haaren und Brille, der da auch mitwerkeln will“, berichtet Pipero munter lachend. Seine Eltern haben seinen Berufswunsch unterstützt, als er nach dem Abitur und einem Praktikum auf der Entbindungsstation im Augsburger Krankenhaus wusste, dass er einen Beruf mit Patientennähe und sozialen Aspekten ergreifen möchte – den der Hebamme. „Mein Vater hat gesagt: ‚Gott sei Dank, er macht was Gescheites.‘ Meine Mutter hat gesagt, dass sich meine vor Langem verstorbene Ururgroßtante sicher sehr über meine Berufswahl gefreut hätte.“

Am ersten Ausbildungstag haben seine Mitschülerinnen ihren einzigen Klassenkameraden mit Klatschen und Jubeln begrüßt. „Mir war das so unangenehm“, erinnert sich Pipero. „An der Hebammenschule hier sind alle total lieb und offen und alle haben mich herzlich, ohne Berührungsängste aufgenommen.“ Eine Selbstverständlichkeit ist das nicht. Während der Bewerbungsphase sei er beispielsweise im Vorstellungsgespräch an einer anderen Hebammenschule sechs Frauen gegenüber gesessen, „die ziemlich negativ eingestellt waren“. Piperos Lehrerin Felicitas Kley, stellvertretende Leiterin der Hebammenschule, erklärt sich dieses Verhalten damit, dass es schon immer männliche Bewerber gegeben habe. „Aber das sind oft Bewerbungen aus Jux. Man muss herausfinden, was die Motivation hinter der Bewerbung ist. Ich glaube nicht, dass unsere Gesellschaft nicht bereit ist für mehr Männer als Hebammen.“

Im Gegenteil: Kley glaubt, dass es vor allem den werdenden Vätern im Kreißsaal guttun kann, wenn die Hebamme ein Mann ist und sich dadurch eine Verbindung zwischen den Geschlechtsgenossen herstellen lässt. Pipero erkennt bislang weder Vor- noch Nachteile seines Mannseins für die Berufsausübung. „Wenn ich genug Empathie habe, kann ich auf die Frau auch eingehen, ohne selbst eine zu sein. Ich habe schon von Frauen gehört, die es super finden, eine männliche Hebamme zu haben, weil Männer entspannter seien.“

Während seiner Ausbildung beziehungsweise seines Studiums lernt Pipero die allgemeine Krankenpflege kennen, bekommt Einblicke in die Kinderstation, die Frühintensivstation, den Kreißsaal, die Wochenbettstation und er erfährt von der Arbeitsweise externer Hebammen, die nicht im Krankenhaus arbeiten. In einer Stuttgarter Hebammenpraxis hat er dabei bei Geburtsvorbereitungskursen und Rückbildungskursen nach der Geburt hospitiert. Auch die Betreuung von Mutter und Kind im Wochenbett, hauptsächlich mit Stillen und der Entwicklung des Säuglings, zählten zu den Hauptaufgaben. Sowohl das Externat als auch die Arbeit auf der Wochenbettstation haben ihm bislang besonders gut gefallen. „Das Stillen ist ein ganz spannendes Thema“, findet Pipero. Was das Schöne an seinem Beruf ist? „Da weiß ich gar nicht, wo ich anfangen und aufhören soll“, schwärmt er. Es sei ein Privileg, mithelfen zu dürfen, wenn ein neues Leben das Licht der Welt erblickt. Das erfülle ihn mit Dankbarkeit, verbunden mit Freude und Ehrfurcht, auch einer gewissen Spannung. Jede Geburt sei wie eine kleine Achterbahnfahrt. „Es ist nie so, wie man es sich denkt. Und jede Geburt ist anders.“

Ausbildung im Umbruch

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Erstellt:
18. März 2021, 06:00 Uhr

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