Entspanntes „Sancta“-Publikum
Niemand ist in Ohnmacht gefallen. Keinem hat es den Magen umgedreht. Auch keine Flucht aus Empörung. Stattdessen Jubel vom Publikum für die umstrittene Opernperformance in Stuttgart.
Von Heidemarie A. Hechtel
Stuttgart - „Ich sage nur eines: Großartig!“ Dabei war Sabine Schröder vor der Vorstellung noch skeptisch, ob sie als überzeugte Katholikin nicht doch Anstoß nehmen würde. Am unheiligen „Sancta“. Denn die Hölle wurde schon auf dem Weg zum Opernhaus beschworen: Von der Aktion „Kinder in Gefahr“ der DVCK (Deutsche Vereinigung für Christliche Kultur), die sich vor dem Schicksalsbrunnen zum Rosenkranz-Beten versammelt hatte. Für die Rettung des Seelenheils derer, die sich dieses „extrem gotteslästerliche Stück wie direkt aus der Hölle und vom Teufel selbst inszeniert“ anschauen wollten.
Wie Gundula Bader, die der feministische Aspekt der Inszenierung interessiert und dafür eigens aus Berlin angereist ist, obwohl sie noch gar keine Karte für die restlos ausverkaufte Vorstellung besitzt. Wie Ursula und Wolf-Heiko Stolle, die sich „von der positiven Berichterstattung“ haben animieren lassen und sich in die Warteschlange vorm Opernhaus einreihen, um die Einführung nicht zu versäumen. Oder wie Eckhart Holzboog und Sybille Wittmann, die sich auf „das Anarchische in dieser Inszenierung, die das Operngenre sprengt“, freuen. Vera Lempertz ist quasi Wiederholungstäterin. Sie war schon in der Premiere und ist begeistert, „dass hier die katholische Kirche zerlegt wird, dass die Frauen zu Wort kommen und dass Stuttgart so eine Offenheit für dieses ungewöhnliche Stück zeigt.“ Zum zweiten Mal wollen auch Annette Korschmann und Marcel Drapalla „Sancta“ erleben: „Wir kommen aus Schwerin und waren dort schon in diesem Stück. Es hat uns so nachhaltig beeindruckt, dass wir es dringend noch einmal sehen wollten.“ Man verstehe Menschen, die es ablehnen, „aber die Katholische Kirche erfährt hier eine Chance, wie sie es besser machen kann.“
In Schwerin hatte „Sancta“ im Mai seine Uraufführung erlebt. Mit tosendem Applaus und begeisterten Kritiken. Von Skandal redete dort kein Mensch. In Wien, wo „Sancta“ bei den Festspielen gastierte, auch nicht. Aber die herbeigeredete Skandalisierung in Stuttgart hat ihr Gutes: Die Stadt ist europaweit und darüber hinaus im Gespräch und zum Hotspot für kulturaffine Menschen geworden. Gewissermaßen ein Geschenk des (Theater-)Himmels. Dafür kann man der österreichischen Performancekünstlerin und Regisseurin Florentine Holzinger nur dankbar sein. Wie auch dem Opernintendanten Viktor Schoner, der dem Publikum dieses Ereignis beschert. Und nebenbei dem Haus einen Riesenerfolg.
Natürlich wissen die Damen an der Kasse von täglichen Mails mit Beschimpfungen zu berichten. Der Briefschreiber, der Schoner bittet, weitere Aufführungen des „blasphemischen und übelkeitserregenden Stückes abzusetzen“, gehört noch zu den moderaten Verfassern. Dass manche Abonnenten ihre Karten zurückgeben, sei kein Problem: „Die Karte ist in spätestens nach fünf Minuten wieder vergeben.“ Denn man habe Anfragen aus London, Italien, Frankreich und sogar aus den USA. Nicht von ganz so weit, aber immerhin von Niederbayern kommen Ludwig Kronpaß und Petra Battinger: „Ich hoffe auf einen Abend, der das verstaubte, muffige Image der Oper hinwegfegt,“ verrät der Mediziner und passionierte Theatergänger seine Erwartungen.
Dann verlässt die Mitwirkende im Nonnenkostüm den Verkaufsstand im Foyer, an dem sie „Body of Christ und Blood of Christ“, also Fleisch und Blut von Christus, in kleine Fläschchen gefüllt, für 133 und 50 Euro feilbietet. Die Vorstellung beginnt. Gundula Bader hat tatsächlich eine Karte bekommen. Von Antonia, die ihren Familiennamen nicht preisgibt: „Mein Lebensgefährte ist krank geworden.“ Leer ausgehen werden die Freundinnen Sarah Dewaguet und Lisa Obergföll bei der Kartensuche.
Haben sich die Erwartungen von Ludwig Kronpaß erfüllt? Ihm ist eine Analogie zum griechischen Theater aufgefallen: Wie bei den antiken Tragödien stehe auch hier die Katharsis, die Reinigung von den Leidenschaften, am Ende. „Unser Fazit: „Ein sehr schöner Abend.“ Und Sabine Schröder ist um eine Erfahrung reicher: „Kirche kann auch Spaß machen.“
Es gibt noch drei Vorstellungen: Am 1.,2. und 3. November. Alle sind ausverkauft.