Landrat Richard Sigel im Interview: „Es gibt keine einfachen Lösungen“
Interview Der Landrat des Rems-Murr-Kreises Richard Sigel agiert im Dauerkrisenmodus. Zwar sieht er die Kliniken aktuell gut aufgestellt, Handlungsbedarf besteht aber etwa im Praxissektor und bei der Flüchtlingsunterbringung.

© Alexander Becher
Richard Sigel setzt auch weiterhin auf die Zusammenarbeit mit dem Kreistag, um Probleme wie eine ärztliche Unterversorgung anzugehen. Foto: Alexander Becher
Ihre erste Amtszeit als Landrat neigt sich dem Ende zu, bekanntermaßen kandidieren Sie für eine zweite Amtszeit. Angesichts der Krisen der vergangenen Jahre – wie viel Spaß macht Ihnen Ihre Arbeit derzeit?
Mir macht die Arbeit mit den Menschen Freude. Sonst kann man auch nicht im Dauerkrisenmodus so ein Amt ausfüllen. Und es macht mir tatsächlich immer noch Freude – wenn auch die letzten zwei Jahre wirklich anstrengend waren. Aber wenn man ein Umfeld hat, das einen gut unterstützt, kann es auch erfüllend sein. Ich habe es ja in meiner Haushaltsrede gesagt: Bei so viel Krisenstimmung ist Zuversicht sehr wichtig. Wir dürfen den Mut nicht verlieren.
Das heißt also, die Krisen haben Sie nicht ermüdet?
Sie haben mich manchmal angestrengt, aber ermüdet haben sie mich nicht.
Die Kreisrätinnen und Kreisräte zeigen sich sehr zufrieden mit Ihnen. Man könnte meinen, Ihre Wiederwahl ist eine reine Formalie. Für Sie auch?
Der Zuspruch ist natürlich sehr wertvoll. Das trägt auch dazu bei, dass man motiviert ist. Und trotzdem: So eine Wahl ist keine Formsache. Ich nehme das wirklich sehr ernst. Als ich hier angetreten bin, habe ich schon gesagt: Der Kreistag ist das Hauptorgan des Landkreises. Es war mir immer wichtig, den Kreistag gut einzubinden, Dinge transparent zu machen und die Entscheidungen gemeinsam zu entwickeln. Ich freue mich, dass das positiv aufgenommen wird. Aber Wahl bleibt Wahl. Und es ist gut, wenn man ein bisschen aufgeregt ist.
Welche Ziele setzen Sie sich für eine zweite Amtszeit?
Das steht noch nicht alles genau fest und mir sind für das Formulieren von Zielen auch noch Gespräche mit den Kreistagsmitgliedern vor der Wahl wichtig. Aber gemeinsam konnten wir eine ganze Menge auf den Weg bringen: eine Wohnbaustrategie, ein sehr ambitioniertes Klimaschutzhandlungsprogramm und einen ehrgeizigen Plan für unsere Kliniken. Und viele Dinge sind schließlich noch nicht fertig. Dinge wie die Gesamtimmobilienkonzeption gilt es weiterzuentwickeln. Da ist angesichts der aktuellen Entwicklungen noch einiges offen und manches muss neu bewertet werden. Ich bin aber dafür, dass wir mutig und zuversichtlich nach vorne gehen. Das zu vermitteln, setze ich mir definitiv als Ziel.
In Ihrer Rede zur Haushaltseinbringung haben Sie die Haushaltslage des Kreises als „sehr schwierig“ bezeichnet. Was sind die Gründe dafür?
Es kommen einfach unheimlich viele soziale Aufgaben dazu. Wenn die Menschen mehr Unterstützung brauchen, dann ist der Kreis dafür in der Verantwortung. Wir zahlen die Leistungen aus, setzen die Dinge, die in Berlin beschlossen werden, in der Fläche um. Und das kostet natürlich am Ende des Tages Geld. Geld, das wir als Landkreis nicht über Steuereinnahmen bekommen, sondern über die Kreisumlage finanzieren oder das wir über Zuweisungen von Bund und Land bekommen. Und da war und ist leider vieles nicht ganz klar. Wie viel Geld kommt da für welchen Bereich und bis wann? So etwas macht es schwierig, gut und verlässlich zu planen.
Auch einige Kreisräte haben Kritik an Bund und Land anklingen lassen, weil die Kommunen bei vielem lange im Unklaren gelassen werden. Sind diese Unsicherheiten mehr geworden?
Die letzten Jahre war es so: Wir machen einen Haushaltsplan, es ist ganz schwierig und am Ende gibt es trotzdem ein gutes Ergebnis. Das zeigt, wo das Problem liegt. Wir bekommen Geld für unsere Aufgaben, aber eben oft erst im Nachhinein. Mir wäre frühere Klarheit lieber. Dieses Jahr war es aber besonders schwierig. Daher bin ich sehr froh, dass der Kreistag das erkannt hat. Wir haben uns richtigerweise auf Sachthemen fokussiert, wir haben uns innerhalb der kommunalen Familie nicht über die Höhe der Kreisumlage gestritten, nur weil Bund und Land nicht rechtzeitig geliefert haben.
Auf dem Papier liest es sich dennoch pessimistisch: ein Verlustvortrag trotz höherer Kreisumlage und aufgebrauchter Rücklagen. Stehen dem Kreis magere Jahre bevor?
Wir als Landkreis sind nicht dazu da, um Speck anzusetzen. Im Gegenteil, wenn die Zeiten für die Menschen mager sind, sorgen wir dafür, dass die Menschen gut durch diese Phase kommen. Sprich: Weitgehend alle, die hilfsbedürftig sind, bekommen die Sozialleistungen von uns. Wir berechnen dann, wie viel Geld wir benötigen, damit wir diese Aufgabe vernünftig erledigen können. Wir wägen sehr intensiv ab, was wir brauchen und was möglich ist, damit bei der Kreisumlage nachher die Städte und Gemeinden nicht überfordert sind.
Ein Verlustvortrag bedeutet aber eine Hypothek für das folgende Jahr. Wo werden hierfür Abstriche gemacht?
Zum einen beinhaltet die Planung, dass wir von Bund und Land erwarten, dass es an ein paar Stellen besser wird. Und wir glauben, dass das auch aufgeht. Wir müssen aber auch sparen. Aber: Bei uns machen die reinen Freiwilligkeitsleistungen nur rund 1,2 Prozent im Etat aus. Der große Teil der Aufwendungen fließt mit über 300 Millionen direkt zurück zu den Bürgern, als soziale Leistungen. Um zu sparen ist es unser Ziel, moderner, digitaler, insgesamt intelligenter zu werden. Hierzu ein schönes Beispiel: Wir waren bis vor einigen Jahren ein Jugendamt in Baden-Württemberg, das immer deutlich mehr Geld ausgegeben hat als der Landesdurchschnitt. Wir arbeiten seit Jahren daran, dass wir enger zusammenarbeiten und Bereiche neu strukturieren. Und im Ergebnis sind wir seit diesem Jahr besser als der Landesdurchschnitt – obwohl wir bei den Jugendlichen überhaupt nicht gespart haben. Das ist strukturelle Arbeit, die nicht ganz einfach ist, die aber Früchte trägt.
Ein großer Kostenpunkt sind die Rems-Murr-Kliniken. Das Defizit steigt wieder an. Sie wollen dennoch langfristig am Sparkurs festhalten. Warum?
Wir wollen an unserer Medizinkonzeption festhalten, das ist alles andere als ein Sparkurs. Wir wollen über 100 Millionen Euro investieren. Wir wollen in Winnenden ein neues Gebäude realisieren und in Schorndorf die komplette Diagnostik, alle Operationssäle und den Kreißsaal neu bauen. Wir haben die letzten Jahre auch weit über 100 neue Mitarbeitende eingestellt. Die Linie ist, dass wir nicht auf Kosten des Personals sparen. Natürlich kommen jetzt ein paar Erfahrungen aus Corona dazu, wo wir nachsteuern müssen. Aber es sind alles Dinge, die sich konzeptionell einbauen und optimieren lassen. Wir sind auf dem richtigen Kurs. Auch wenn die Zahlen erschreckend sind und einem deutlich machen: Auf Dauer kann das so mit der Klinikfinanzierung nicht funktionieren. Da muss von Bund und Land bei der Krankenhausfinanzierung nachgesteuert werden.
Zur medizinischen Versorgung gehören auch die Haus- und Fachärzte. Im Bereich Backnang ist der Versorgungsgrad besorgniserregend niedrig. Wie will die Kreisverwaltung hier weiter vorgehen?
Dafür gibt es gar keine einfachen Lösungen. Wir haben schlicht zu wenig junge Medizinerinnen und Mediziner, die sagen: Ich möchte eine eigene Praxis aufmachen. Wir machen schon eine ganze Menge. Wir haben im Zuge des Klinikneubaus in Winnenden zwei Gesundheitszentren etabliert und zweistellige Millionenbeträge in diese Strukturen investiert. Darin sind Arztpraxen, in Backnang beispielsweise auch OPs und eine Notfallpraxis mit untergebracht – zu sehr moderaten Mieten. Und nun werden wir schauen, was wir darüber hinaus noch tun müssen und können. Es wird eine Gesundheitskonferenz im neuen Jahr geben, da wollen wir das intensiv besprechen. Man muss die Diskussion aber sehr offen führen – gemeinsam mit den Ärzten. Medizinische Versorgungszentren (MVZ) können ein Baustein sein, den man aber gut abwägen muss. Wir werden in einem ersten Schritt voraussichtlich das erste MVZ mit einem gynäkologischen Sitz an den Start bringen, auch um unsere Kinderklinik zu stärken, weil wir in gynäkologischen Spezialbereichen unterversorgt sind. Alles weitere gilt es dann gut abzuwägen.
Öfters angesprochen wurde das Beispiel Ostalbkreis. Dort bietet man Medizinstudenten ein Stipendium an, wenn sie sich danach im Kreis niederlassen – eine Idee auch für den Rems-Murr-Kreis?
Man kann über alles diskutieren. Die Frage ist, ob es Sinn macht, Studienplätze außerhalb Deutschlands dafür zu finanzieren. Wir haben uns aktuell für den Weg entschieden, Lehrkrankenhaus der Universität Tübingen zu sein. Wir arbeiten sehr intensiv daran, die Medizinstudenten dort abzuholen, sie auch für uns zu begeistern und dann für unsere Kliniken zu gewinnen. Stipendien können aber ein Baustein sein, wenn sie zu den neuen Programmen des Landes passen. Ich bin da offen. Aber nur mit den Stipendien werden wir unser Problem nicht lösen. Da müssen wir tiefer rein.
Lösungen finden ist auch die Devise bei einem anderen Thema: Die Zahl der geflüchteten Menschen, die in den Rems-Murr-Kreis kommen, ist stark gestiegen. Wie kann der Kreis den Ansturm bewältigen?
Gemeinsam mit den Städten und Gemeinden. Wir als Landkreis weisen keiner Kommune Flüchtlinge zu, die nicht weiß, wo sie diese übernachten lassen kann. So kommen wir bisher gut durch die Krise. Wir haben aktuell zwei neue Unterkünfte belegt, unter anderem in Murrhardt. Und wir haben viel investiert. Aber: Land und Bund müssen auch ihrer Verantwortung gerecht werden und Pufferkapazitäten aufbauen. Auf dieser Ebene passiert noch viel zu wenig. Für uns ist der Aufbau der Unterkünfte eine enorme Herausforderung, in der Geschwindigkeit können wir das im Ballungsraum gar nicht ohne Weiteres leisten. Wir wollen feste, qualitativ hochwertige Unterkünfte, die verteilt sind in der Fläche. Und dann wird es auch Notunterkünfte geben müssen, je nachdem, wie viele Flüchtlinge zu uns kommen. Dazu gehören auch die Zelte, die in Backnang stehen. Das ist die Reaktion darauf, dass wir sehr schnell sehr viele Menschen zugewiesen bekommen haben.
Die Zeltunterkunft in Backnang musste bislang noch nicht belegt werden, wird sich das bald ändern?
Wir waren beim Aufbau der anderen Unterkünfte schneller, daher war das nicht nötig. Zum Glück, denn bei Schnee und Matsch wäre das suboptimal. Das kann man machen, wenn man sonst nichts mehr hat. Und wir werden die Zelte auch stehen lassen über den Winter, damit wir handlungsfähig bleiben, aber nach Möglichkeit nicht in die Belegung gehen. Für mich sind auch Turnhallen keine Unterbringung, die wir anstreben sollten. Für das gesellschaftliche Leben, für die Sportvereine sind die Hallen unheimlich wichtig, gerade nach Corona. Und so eine Unterbringung bietet Konfliktpotenzial. Es gab einen Fall von Kindesmissbrauch in einer von uns belegten Halle. Da zeigt sich: Wenn die Privatsphäre in einer Unterkunft nicht gegeben ist, dann ist es umso schwieriger, sie zu betreuen.
Ein weiteres großes Thema ist auch der Klimaschutz. Statt 2035 ist das Zieljahr für die Klimaneutralität des Kreises nun 2040. Ist das realistisch?
2035 haben wir als Landkreisverwaltung weiter als Ziel. Daran halten wir auch eisern fest. Darauf zahlen auch all unsere Maßnahmen ein. Was wir neu aufgelegt haben ist das Klimaschutzhandlungsprogramm mit einem konkreten Klimaziel für den gesamten Landkreis. Und ich gebe gerne zu, ich habe mich immer ein bisschen gewehrt zu sagen, wir definieren ein Ziel für den gesamten Landkreis. Denn wie wollen wir sicherstellen, dass die Backnanger, die Sulzbacher, die Schorndorfer und alle anderen gleichzeitig so vorankommen, dass wir als Landkreis gesamt klimaneutral sind? Aber in diesen vielen Diskussionen mit den Menschen im Landkreis war klar: Sie wünschen sich, dass wir als Landkreis die Fahne mit in die Hand nehmen und vorausmarschieren. Und deshalb hat der Kreistag zugestimmt und beschlossen: spätestens 2040 für den gesamten Landkreis. Damit haben wir jetzt eine klare Maßgabe, wenngleich es in erster Linie natürlich ein politisches Ziel ist. Aber wir werden es sehr ehrgeizig angehen.
Im kommenden Jahr stehen Ihnen immerhin auch einige freudige Zeiten bevor, denn der Rems-Murr-Kreis wird 50 Jahre alt. Wie steht der Landkreis Ihrer Ansicht nach aktuell da?
Die IHK Bezirkskammer Rems-Murr hat ganz aktuell eine Studie gemacht und sich angeschaut: Wie steht die Wirtschaft da? Daran können wir uns ganz gut orientieren. Ein Punkt war das Thema Breitbandversorgung und Internet. Wir wollen bis 2025 die Hälfte aller Haushalte mit Glasfaser angeschlossen haben. Wir werden das Ziel schon 2024 erreichen. Ein zweites Thema war der Wohnraum. Hier arbeiten wir mit klaren Strategien, leisten unseren Beitrag, binden alle ein und tun unser Möglichstes. Das Thema Bürokratieabbau war noch ein wichtiger Punkt. Wir haben an einem Projekt mit dem Normenkontrollrat Baden-Württemberg als Pilotlandkreis teilgenommen, um diese Genehmigungsverfahren besser zu machen. Unser digitaler Handwerkerparkausweis funktioniert bereits kreisweit super. Wir suchen und finden pragmatische Lösungen. Aber auch das soziale Miteinander funktioniert. Ich habe immer schon gesagt: Mir ist wichtig, dass zwischen Rems und Murr kein Trennstrich, sondern ein Bindestrich steht. Wenn wir die Kräfte bündeln, geht es voran. Wir haben ein unheimlich starkes Ehrenamt. Ich finde, wir sind gut aufgestellt. Bei all den Themen, die einem gerade Sorgenfalten auf die Stirn treiben, dürfen wir die Zuversicht nicht verlieren und können positiv nach vorne blicken.
Das Gespräch führte Lorena Greppo.