Kretschmann drückt Stopp bei Ganztags-Rechtsanspruch durch

dpa/lsw Berlin/Stuttgart. Es ist ein Prestigeprojekt der großen Koalition: Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder sollte noch vor der Wahl beschlossen sein. Doch den Ländern ist das zu teuer, sie stoppen das Vorhaben vorerst. Ganz vorne dabei sind die sparsamen Schwaben.

Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen), Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Foto: Bernd Weißbrod/dpa/Archivbild

Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen), Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Foto: Bernd Weißbrod/dpa/Archivbild

Der geplante Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschüler in Deutschland wackelt. Der Bundesrat verweigerte am Freitag auch auf Initiative von Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) dem Gesetz die Zustimmung und rief den Vermittlungsausschuss an. Hintergrund ist ein Streit ums Geld. Die Bundesländer fordern, dass der Bund deutlich mehr Mittel für das milliardenschwere Vorhaben zur Verfügung stellt. Ob es bis zur Bundestagswahl noch eine Lösung gibt, ist ungewiss. Kritik kam von der Bildungsgewerkschaft GEW. Die Grünen orientierten sich immer mehr an den „veralteten CDU-Konzepten für den Ganztag aus dem letzten Jahrzehnt“, sagte GEW-Landeschefin Monika Stein.

Kretschmann hatte vor der Abstimmung dafür geworben, „ernsthafte Verhandlungen über eine faire Lastenverteilung anzugehen“. Das sei bisher nicht geschehen. „Es kann nicht so weitergehen, dass den Ländern Schritt für Schritt der finanzielle Spielraum genommen wird.“ NRW-Familienminister Joachim Stamp (FDP) warf dem Bund vor, den Rechtsanspruch mit der Brechstange durchsetzen zu wollen.

Geplant war eigentlich, dass jedes Kind, das ab Sommer 2026 eingeschult wird, in den ersten vier Schuljahren Anspruch auf einen Ganztagsplatz bekommt. Es wird davon ausgegangen, dass dafür bundesweit bis zu eine Million zusätzliche Plätze geschaffen werden müssen. Baden-Württemberg hat im Gegensatz etwa zu ostdeutschen Bundesländern großen Aufholbedarf. Der Gemeindetag geht für den Südwesten davon aus, dass bis 2025 etwa 200.000 zusätzliche Plätze in der Ganztagsbetreuung bei rund 400.000 Grundschülern geschaffen werden müssen.

Der Bund will den Ländern nach bisherigen Plänen 3,5 Milliarden Euro für Investitionen zur Verfügung stellen und sich langfristig mit knapp einer Milliarde Euro jährlich an den laufenden Betriebskosten beteiligen. Allerdings werden die Personal- und Betriebskosten auf bis zu 4,5 Milliarden Euro im Jahr geschätzt. Kretschmann befürchtet, dass allein auf Baden-Württemberg im Endausbau Kosten von jährlich einer Milliarde Euro zukommen könnten.

Finden wie in diesem Fall vom Bundestag bereits beschlossene Gesetze keine Zustimmung im Bundesrat, kann der Vermittlungsausschuss angerufen werden. Das gemeinsame Gremium beider Häuser versucht dann, eine Einigung herbeizuführen, die allerdings erneut in Bundesrat und Bundestag bestätigt werden muss. Wenn das Ganztagsgesetz nicht mit der Bundestagswahl am 26. September verfallen soll, müsste der Bundestag also vorher noch einmal zu einer Sondersitzung zusammenkommen.

Bundesfamilienministerin Christine Lambrecht (SPD) äußerte sich nach der knappen Abstimmung im Bundesrat enttäuscht: „Kinder und Familien in unserem Land haben dieses Signal nicht verdient.“ Der Bund sei den Ländern an vielen Stellen sehr weit entgegenkommen. Gemeinsame Aufgabe sei es jetzt, schnell eine Lösung zu finden, damit das Gesetz doch noch in dieser Legislaturperiode in Kraft treten könne.

Kretschmann sagte, die Länder könnten die vorgesehene Last nicht schultern, „das würde den Grundsätzen einer soliden Haushaltsführung widersprechen“. Es sei immer das Gleiche, der Bund locke die Länder mit Geld für Investitionen, beteilige sich dann aber nur unzureichend an den weiterlaufenden Betriebs- und Personalkosten. Das sei eine ungute Entwicklung. „Das nimmt uns Zug um Zug die Freiheit.“ Der Grünen-Politiker ist dafür, eine dritte Föderalismuskommission einzurichten, bei der die Finanzverteilung zwischen Bund und Ländern neu justiert wird. Wie die dpa erfuhr, hatte die Landesregierung auch mit einer Normenkontrollklage geliebäugelt, wenn das Gesetz im Bundesrat am Freitag ohne Änderung durchgegangen wäre.

Die Bildungsgewerkschaft GEW kritisierte, Kretschmann mache es sich zu einfach, wenn er die Verantwortung für den Ganztagsausbau vor allem bei der Bundesregierung sehe. „Die Grünen standen früher einmal für den konsequenten Ausbau von gebundenen Ganztagsschulen und damit für mehr Qualität in den Klassenzimmern“, sagte GEW-Landeschefin Monika Stein. Das sei wohl vorbei. „Die letzten fünf Jahre waren für den Ganztagsausbau ein Rückschritt.“

Nach Zahlen der amtlichen Schulstatistik 2020 gibt es bisher bei knapp einem Drittel der Grundschulen im Südwesten Ganztagsbetreuung. Von den 2438 Grundschulen bieten 760 Betreuung am Nachmittag an. Allerdings ist die Teilnahme bei den meisten dieser Schulen (594) freiwillig.

© dpa-infocom, dpa:210625-99-138950/4

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Erstellt:
25. Juni 2021, 10:28 Uhr

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