Gedenken an zentralen Plätzen der Stadt
Mit einem Prozessionsgottesdienst in Backnang erinnern die Kirchen am Freitag an den 80. Jahrestag der Reichspogromnacht

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„Das Wort ,Jude‘ wird auf den Schulhöfen
heute wieder als Schimpfwort gebraucht“ Ulrich Roock Biblische Gemeinde
Von Kornelius Fritz
BACKNANG. Am 9. November 1938 wird aus Diskriminierung Verfolgung. In der sogenannten Reichspogromnacht brennen in Deutschland Hunderte Synagogen, organisierte Schlägertrupps zerstören Geschäfte und Wohnungen jüdischer Inhaber, viele Menschen sterben, Tausende werden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Die vom nationalsozialistischen Regime legitimierten Gewalttaten sind der Auftakt einer systematischen Judenverfolgung, die im größten Völkermord Europas endet. Aus Backnang sind zwar keine Übergriffe aus jener Nacht bekannt. Das liege aber wohl vor allem daran, dass hier zu diesem Zeitpunkt schon fast keine Juden mehr lebten, sagt Klaus Herberts von der katholischen Gesamtkirchengemeinde.
Den 80. Jahrestag dieser Nacht will die Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen (ACK) nutzen, um an die schrecklichen Ereignisse von damals zu erinnern und zugleich entschieden gegen alle neuen Formen von Antisemitismus und Diskriminierung einzutreten. Die Backnanger ACK beteiligt sich an der landesweiten Aktion: Mit einem Prozessionsgottesdienst unter dem Motto „Erinnerung und Verantwortung“ will sie das Thema am Freitagabend in die Stadt tragen.
„Wir wollen uns erinnern, aber auch betonen, welche Verantwortung sich daraus für die Gegenwart ergibt“, sagt der evangelische Dekan Wilfried Braun. Denn die Organisatoren haben das Gefühl, dass Ausgrenzung und Diskriminierung von Minderheiten im Allgemeinen, aber auch gegen Juden in Deutschland wieder zunehmen. „Das Wort ,Jude‘ wird auf den Schulhöfen heute wieder als Schimpfwort gebraucht“, hat Pfarrer Ulrich Roock von der Biblischen Gemeinde festgestellt. Vor einigen Wochen wurden sogar Sitzbänke im Ulmer Münster mit Hakenkreuzen beschmiert.
Und der neue Antisemitismus, der eigentlich Antijudaismus heißen müsste, weil auch Araber Semiten sind, keimt gleich an mehreren Stellen. In der rechten Szene ebenso wie bei Islamisten und sogar unter Linksextremen. Für Rolf Idler von der Neuapostolischen Gemeinde ist mit dem Gedenken an die Reichspogromnacht deshalb auch ein politisches Statement verbunden: „Von Parteien, die Diskriminierung propagieren, fühle ich mich als Christ angegriffen.“
Dekan Braun will in diesem Zusammenhang auch die unrühmliche Rolle der Kirchen im Dritten Reich nicht verschweigen. Vom damaligen Backnanger Dekan gibt es ein Foto, auf dem zu sehen ist, wie er auf der Bleichwiese SA-Verbände mit offenen Armen empfängt. „Auch wir als evangelische Kirche haben damals Schuld auf uns geladen“, sagt Braun. Jetzt wollen die Kirchen ein sichtbares Zeichen für Offenheit und Toleranz setzen und damit möglichst viele Backnanger erreichen.
Deshalb führt die Prozession zu zentralen Plätzen in der Stadt: Los geht es um 18 Uhr am Stiftshof, weitere Stationen sind am Schillerplatz, bei der methodistischen Zionskirche, vor dem Rathaus und an der Sulzbacher Brücke. An jeder der fünf Stationen gibt es einen musikalischen Auftakt mit Klezmer-Stücken von den Klarinettistinnen Sandra Schröder und Penelope Pinakos. Dann folgt jeweils ein geistlicher Impuls mit Texten und Gebeten. Neben Kirchenvertretern werden auch Schüler vom Berufsschulzentrum mitwirken. „Wir wollen auch die junge Generation zur Verantwortung heranziehen, damit sie die alten Fehler nicht noch einmal machen“, sagt Pfarrerin Ulrike Heinrich von der evangelischen Kirchengemeinde Sachsenweiler-Steinbach. Vor dem Rathaus wird dann auch Oberbürgermeister Frank Nopper zu Wort kommen und gemeinsam mit Vertretern des Gemeinderats acht Kerzen entzünden.
Die Initiatoren hoffen, dass sich beim Zug durch die Stadt auch der eine oder andere Passant der Gruppe anschließt: „Wir wollen nicht unter uns bleiben“, betont Klaus Herberts. Auch Nicht-Christen seien willkommen. Wer möchte, kann, wenn die Gedenkfeier gegen 19.30 Uhr endet, noch ins Universum-Kino weiterziehen. Dort läuft um 20 Uhr der Film „Kaddisch für einen Freund“, der von der ungewöhnlichen Freundschaft zwischen einem jungen Araber und einem alten Juden in Berlin erzählt.
Der Prozessionsgottesdienst unter dem Titel „Erinnerung und Verantwortung“ beginnt am Freitag, 9. November, um 18 Uhr auf dem Stiftshof und dauert etwa 90 Minuten.
Der Film „Kaddisch für einen Freund“ läuft ab 20 Uhr im Universum-Kino und kostet 8,50 Euro Eintritt.
christlicher Kirchen Info Die 1948 gegründete Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen (ACK) verfolgt das Ziel, die ökumenische Zusammenarbeit in Deutschland zu fördern. Bundesweit hat die ACK 17 feste Mitglieder und sechs sogenannte Gastmitglieder. Der Backnanger ACK gehören sieben Kirchen an: Neben der evangelischen und der katholischen Gesamtkirchengemeinde sind dies Baptisten, Methodisten, Mennoniten, Neuapostolische Kirche und die Biblische Gemeinde. Ihre Vertreter treffen sich dreimal im Jahr. Gemeinsam organisieren sie unter anderem den Gottesdienst beim Backnanger Straßenfest, Themenabende und einen jährlichen Kanzeltausch, bei dem die Pfarrer in einer anderen Kirche predigen.