Vorsitzende der Hospizstiftung: „Gute Sterbebegleitung schafft Würde“

Turmgespräche Die Vorsitzende des Fördervereins der Hospizstiftung Rems-Murr, Gabriele Keller, möchte ermöglichen, dass niemand die schwere Last auf dem letzten Wegabschnitt des Lebens alleine tragen muss.

Wenn der Blick in die Ferne geht, sind Gedanken an den Tod oft nahe. Hospizexpertin Gabriele Keller erklärt BKZ-Redakteur Matthias Nothstein auf dem Umlauf des Stadtturms, weshalb es so wichtig ist, sich frühzeitig mit dem Thema Sterben zu beschäftigen. Fotos: Alexander Becher

© Alexander Becher

Wenn der Blick in die Ferne geht, sind Gedanken an den Tod oft nahe. Hospizexpertin Gabriele Keller erklärt BKZ-Redakteur Matthias Nothstein auf dem Umlauf des Stadtturms, weshalb es so wichtig ist, sich frühzeitig mit dem Thema Sterben zu beschäftigen. Fotos: Alexander Becher

Vom Stadtturm hat man eine herrliche Sicht nicht nur über Backnang, sondern auch in die Ferne. Da schweifen die Gedanken gerne auch einmal ab. Denken Sie in solchen Momenten auch manchmal an die Endlichkeit des Lebens?

Wenn man weit in die Landschaft schaut, ob von einem solchen Turm oder einem hohen Berg, überlegt man schon, was man schon erlebt hat oder wie man sein Leben gestalten möchte. Das ist von der Höhe aus besonders gut möglich, wenn man vom Alltagsbetrieb mit all seinen Sorgen herausgehoben ist. Auch im Flugzeug kann ich solchen Gedanken ganz ungestört nachhängen.

Haben Sie eine Vorstellung von Ihrem eigenen Sterben? Was wollen Sie? Was soll auf keinen Fall passieren?

Ich wünsche mir eine vertraute Umgebung. Aber das wird auf die Situation ankommen, das kann durchaus auch ein Hospiz sein.

Für viele Menschen ist es die Idealvorstellung, zu Hause sterben zu können. Wie sieht da die Realität aus?

Es gibt genügend Möglichkeiten der Hilfe, das Sterben zu Hause zu ermöglichen. Wovor ich mich immer ein bisschen scheue ist zu sagen, Sterben gelingen zu lassen, das klingt mir zu positiv. Sterben ist immer mit Abschied und Trauer verbunden. Aber es gibt genügend Unterstützung, die diesen Prozess begleitet. Dafür stehen wir in der Hospizbewegung ganz besonders. Wir haben in Backnang alle diese Unterstützungsmöglichkeiten, auch in Zusammenarbeit mit allen anderen sozialen Einrichtungen, die es im Rems-Murr-Kreis gibt. Ich würde mir eine Begleitung wünschen, die den Sterbeprozess gut einschätzen kann. Ich selber habe schon Menschen im Sterbeprozess begleiten dürfen. Je mehr man sich damit auseinandersetzt, desto einfacher wird es für alle, den Abschiedsprozess gut zu gestalten und ein ruhiges Einschlafen zu ermöglichen.

Wenn es aber so weit ist, dass ein Mensch ins Hospiz kommt, welche Hilfen können er und die Angehörigen dort erfahren?

Das Hospiz hat vom Ambiente her einen ganz anderen Charakter als ein Krankenhaus. Zwar gibt in den Kliniken auch Palliativstationen, bei denen die Räume nicht so steril wie Patientenzimmer gestaltet sind. Aber der Aufenthalt auf einer Palliativstation ist aus finanziellen Gründen zeitlich begrenzt. Im Hospiz hingegen sind alle Zimmer wohnlich gestaltet, es gibt Aufenthaltsräume, die Wohncharakter haben. Wir haben eine Küche, in der gemeinsam gekocht und gebacken und auch gelacht wird. Jede Woche kommt ein Musiktherapeut, was sehr geschätzt wird. Eine Frau kommt mit ihrem Hund. Das ist für viele nochmals ein Bezug zum Leben, da sie aus der Landwirtschaft kommen oder selber Tiere hatten.

Turmgespräch mit Gabriele Keller von der Hospizstiftung

Das Motto „Nicht dem Leben mehr Tage, sondern den Tagen mehr Leben geben“ wird oft zitiert. Beschreibt dies die wesentliche Hospizaufgabe?

Ja. Joan Baez hat es so formuliert: „Wir wissen nicht, wann wir sterben, und wir wissen nicht, wie wir sterben, aber wir leben, und zwar jetzt.“ Das ist das, was wir im Hospiz ermöglichen wollen. Wir wissen ja nicht, ob die Gäste heute, morgen oder erst in drei Monaten sterben.

Die Hospizstiftung Rems-Murr hat eine Vorreiterrolle im Land inne. Erinnern Sie sich noch an die Anfänge?

Sehr gut. Die ersten Gedanken hat man sich schon 1993 gemacht, damals schwappte eine Bewegung übers Land. Ende der 90er entstanden erste Hospize. Bei der Gründung des Hospizvereins 1995 lautete der Anspruch: Niemand soll allein sein im Sterben. Es entwickelten sich ambulante Gruppen und dabei hatte Backnang eine absolute Vorreiterreiterrolle inne. Schon dieser erste große Schritt der Begleitung wurde von den Betroffenen als sehr wohltuend wahrgenommen. Ein Patient hat einmal zu seinem Begleiter gesagt: „Sie haben mir die Augen für die wichtigen Dinge im Leben geöffnet. Wenn früh am Morgen der Kaffeeduft durchs Haus zieht, das ist Leben.“ Solche kleinen Dinge kann ein Begleiter leisten. Er kann schweigen, er kann reden, er ist nicht eingebunden in familiäre Gefüge.

Wie wurde das Angebot ausgeweitet?

Es entwickelten sich ambulante Gruppen in Murrhardt, Waiblingen, Schorndorf und Fellbach. Die ehrenamtlichen Mitglieder haben kreisweit Begleitung angeboten. Das Angebot stand und steht jedem kostenlos zur Verfügung. Dann erst folgte das stationäre Hospiz.

Wer waren die Triebfedern?

An erster Stelle will ich Heinz Franke nennen, der der Bewegung unheimlich viele Impulse gegeben hat. Er ist ein Visionär, der erkannt hat, dass ehrenamtliche Begleitung allein nicht ausreicht, sondern dass es ein stationäres Hospiz und Struktur braucht. Sehr viel theoretische und praktische Unterstützung kam auch von Robert Antretter, der uns mit seiner politischen Erfahrung sogar europaweit sehr unterstützt hat. Und Susanne Stolp-Schmidt war die erste Hospizreferentin hier im Kreis. Sie hat unheimlich viel Aufbauarbeit geleistet. Wenn sie dieses Jahr in Rente geht, hinterlässt sie große Fußstapfen. Sie hat die Gabe, eine Atmosphäre des Vertrauens zu schaffen.

Der nächste Schritt war das Kinderhospiz Pusteblume. Warum ist dies nötig?

Weil man erkannt hat, Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, sondern es bedarf einer besonderen Betreuung. Das Kinderhospiz kümmert sich nicht nur um schwerst kranke Kinder, sondern auch um die Kinder der erkrankten Eltern. Es existierte auf diesem Gebiet eine riesige Lücke. Die Begleitung der Eltern war gewährleistet, aber die Kinder waren oft sich selbst überlassen.

Welche Angebote bieten Sie noch an?

Ein großer weiterer Punkt sind die Trauergruppen, die ebenfalls von sehr engagierten Mitarbeitenden organisiert werden. Zudem bieten wir Beratungen zum Thema vorsorgende Papiere an. Patientenverfügungen sind für Ärzte eine ganz wichtige Handreichung. Ich kann nur dafür werben, dass man sich in jungen Jahren Gedanken dazu macht, was alles geregelt werden sollte.

Gabriele Keller lernte schon in den 90er-Jahren im Ludwigsburger Krankenhaus die Nachbetreuung von Patienten kennen, bei denen die Therapieoptionen erschöpft waren. Seit 2001 engagiert sich die Winnenderin in der Hospizbewegung.

© Alexander Becher

Gabriele Keller lernte schon in den 90er-Jahren im Ludwigsburger Krankenhaus die Nachbetreuung von Patienten kennen, bei denen die Therapieoptionen erschöpft waren. Seit 2001 engagiert sich die Winnenderin in der Hospizbewegung.

Nochmals zurück zur Idealvorstellung, zu Hause sterben zu können. Wie hilft die Hospizstiftung im diesem Fall?

Die moderne Palliativmedizin gewährleistet Lebensqualität bis zum Ende. Aber das bedarf einer intensiven Pflege. Schmerzen können in Form einer dauerhaften Gabe von Schmerzmitteln mittels Medikamentenpumpen gelindert werden. Aber auch diese Pumpen müssen betreut werden. Das Ziel muss immer lauten, wirkliche Lebensqualität zu erhalten. Die SAPV, die spezialisierte ambulante Palliativversorgung, ist medizinisch orientiert, steht aber gleichzeitig auch als psychologische Unterstützung für die Angehörigen und für Fragen zur Verfügung. Wenn ein Mensch zu Hause in den Sterbeprozess eintritt, aber Angehörige bisher nichts damit zu tun hatten, kann manches erschreckend sein. Dann haben alle Beteiligten mit den Kolleginnen und Kollegen der SAPV, die sehr gut ausgebildet sind, sowohl Ärztinnen und Ärzte als auch Pflegerinnen und Pfleger, Ansprechpartner, die sie Tag und Nacht in Anspruch nehmen können. Sie stellen eine große Beruhigung und eine Art doppelten Boden dar. Die Angehörigen können die Zeit des Sterbens und des Abschiednehmens bewusst erleben.

Wie kooperieren Hospiz und SAPV?

Der SAPV hat sich 2015 hier etabliert, zunächst in einem Verein. Schnell war klar, dass der Kreis zu groß ist und zwei kleinere Einheiten günstiger sind. So erfolgte 2020 die Trennung. Die Hospizstiftung hat die Trägerschaft für die neu gegründete SAPV Daheimsein übernommen, die den Großraum Backnang und einen Teil des Waiblinger Umlands versorgt. Die SAPV Rems-Murr ist zuständig für das restliche Remstal.

Das Hospiz hat seinen Sitz in Backnang. Werden hier nur Menschen aus dem Raum Backnang aufgenommen?

Nein, es können alle Gäste werden, sogar landkreisüberschreitend, wenn dort die Hospizbetten knapp werden. Das Hospiz und die ambulanten Begleitungen stehen allen Menschen zur Verfügung, es ist eine Einrichtung des Landkreises. Die Stadt Backnang ist mit dem Standort des Hospizes und seines palliativen Netzwerks ein wichtiger Gesundheits- und Sozialversorger aller Bürgerinnen und Bürger des Kreises.

Lassen sie uns übers Geld reden. Trägt sich das Hospiz von alleine?

Nein. Es ist aus gutem Grund nicht kostendeckend finanziert, weil man nicht wollte, dass Hospize zu einem Geschäftsmodell werden. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt. Der Dienst am Menschen ist die ethische Grundlage: „Dass einer dem anderen Rast gebe auf dem Weg nach dem ewigen Zuhause.“ Das muss sich auch in der Finanzierung widerspiegeln. Das Hospiz braucht finanzielle Hilfe. Und es bekommt diese aus der Bevölkerung in Form vieler Spenden.

Sind sie als Vorsitzende des Fördervereins mit der Unterstützung zufrieden?

Wir haben aktuell 297 Mitglieder und einen ständigen Zuwachs. Die Mitglieder, die wir am Anfang hatten, haben oft für sich gedacht, hier kann ich mein Leben in einer guten Atmosphäre beenden. Die Nachfolgegeneration setzt sich auch aus Jüngeren zusammen, was mich sehr freut. Das ist ein Spiegel für die Arbeit der Hospizstiftung. Es sind Menschen, deren Angehörige im Hospiz betreut wurden. Sie haben gespürt, was dort alles getan wird, um Leben zu ermöglichen. Das ist ein großes Geschenk. Und das möchten sie unterstützen. Das ist die Hauptmotivation, Mitglied zu werden.

Zum Schluss dennoch eine provokante Frage: Kann man schön sterben?

Das ist eine schwere Frage. Schauen wir mal an den Anfang. In der Urzeit haben die Frauen ihre Kinder irgendwo bekommen. Häufig sind sie oder ihre Kinder gestorben. Dann hat sich der Berufsstand der Hebammen entwickelt, die die Frauen bei der Geburt begleitet haben, sodass der Geburtsvorgang für die Frauen heute erträglich ist oder sogar zu einem Glückserlebnis werden kann. Und genauso ist es beim Sterben. Unsere ehrenamtlichen Begleiter und die gute medizinische Versorgung schaffen Würde. Diese Begleitung beim Übergang kann den Sterbeprozess sicherlich nicht schön machen, das ist das falsche Wort, aber sie kann für eine gewisse Befriedigung sorgen. Klar, es ist immer Trauer da, wenn ein Mensch geht. Aber man kann dann anders zurückdenken. Das Ende ist annehmbar. Für die Menschen, die zurückbleiben, und für den, der geht.

Das Gespräch führte Matthias Nothstein.

Blick vom Turm

Heilung Beim Blick in Richtung früheres Krankenhaus sagt Gabriele Keller, der Bau des Gesundheitszentrums, des Pflegeheims und des Hospizes habe eine gewisse Heilung der klaffenden Klinikwunde bewirkt. Mit großer Freude erblickt sie die Christkönigskirche, „dort hatten wir einmal ein wunderbares Benefizkonzert für unseren Förderverein, das habe ich in schöner Erinnerung“.

Herkunft und Beruf Gabriele Keller ist 1956 in der Nähe von Dresden geboren. Die Fachärztin für Pharmakologie und Toxikologie arbeitete nach der Wende am onkologischen Schwerpunkt des Klinikums Ludwigsburg. Nach einem weiteren Studium arbeitete sie seit 2010 als Medizincontrollerin bei den Kreiskrankenhäusern Backnang, Waiblingen und Schorndorf und leitete von 2015 bis 2020 das Patientenmanagement der Rems-Murr-Kliniken.

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Erstellt:
9. Juni 2023, 06:00 Uhr

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