Hausbesuche immer seltener

Immer mehr Hausärzte fahren nur noch in akuten Fällen zu ihren Patienten nach Hause – Finanziell oft nicht lohnend

„Guten Tag, wie geht es uns denn heute? Darf ich hereinkommen?“ Noch heute entspricht bei vielen Menschen der Beruf des Landarztes einem Klischee: Er besucht die Menschen daheim, kümmert sich regelmäßig um sie und hat immer Zeit für ein kleines Schwätzchen zwischendurch. Doch die Wahrheit sieht anders aus. Denn Hausbesuche werden kaum noch gemacht.

Franz Wernet ist Facharzt für Allgemeinmedizin. Seine Hausbesuche hat er drastisch reduziert. Der Grund dafür ist vor allem wirtschaftlicher Natur. Fotos: J. Fiedler

© Jörg Fiedler

Franz Wernet ist Facharzt für Allgemeinmedizin. Seine Hausbesuche hat er drastisch reduziert. Der Grund dafür ist vor allem wirtschaftlicher Natur. Fotos: J. Fiedler

Von Silke Latzel

ALTHÜTTE/SULZBACH AN DER MURR. Seit fast 40 Jahren ist Walter Mast Hausarzt für die Bürger von Althütte. Viele von ihnen hat er schon vor ihrer Geburt im Mutterleib „kennengelernt“, jetzt kommen einige der damals Neugeborenen mit ihren eigenen Kindern zu ihm. Derzeit befindet sich der 71-jährige Mast in einer Art Übergangsphase und wird bald in den Ruhestand gehen, sein Nachfolger Benjamin Tscheuschner sitzt schon im Sprechzimmer nebenan. Der 36-Jährige wird in naher Zukunft die Praxis übernehmen (wir berichteten). Zwischen den Ärzten liegt eine Generation. Und dementsprechend unterschiedlich sind auch die Erfahrungen und der Umgang der beiden mit dem Thema Hausbesuche bei Patienten.

Mast hat die Veränderung über die Jahre deutlich mitbekommen. „Es gibt gewaltige Unterschiede zwischen früher und heute“, sagt er. „Ich verstehe das, finde es persönlich aber schade. Hausbesuche habe ich immer sehr gerne und auch sehr viele gemacht.“ Nicht alle Fälle seien medizinisch indiziert gewesen. „Da ging es auch um mehr, vor allem um den menschlichen Kontakt.“ Dieser sei bei Hausbesuchen sowieso viel enger, als wenn die Patienten in die Praxis kommen. „Ich habe ja das ganze Umfeld gesehen: Ist die Küche aufgeräumt oder stapelt sich das Geschirr? Wurde vor Wochen das letzte Mal gesaugt? Ist das Badezimmer geputzt? Diese Beobachtungen helfen, den Allgemeinzustand des Patienten einzuschätzen und haben oftmals auch eine medizinische Relevanz.“ Dies sei heutzutage schwerer: „Natürlich merken wir, ob jemand dreckige Kleidung trägt oder die körperliche Hygiene etwas vernachlässigt, aber oft schaffen es die Menschen, für einen Besuch beim Arzt die häuslichen Umstände gekonnt zu überspielen.“ Auch seien bei Hausbesuchen oft die Angehörigen anwesend und man könne sich direkt besprechen.

Mast kann unzählige Geschichten von erlebten Hausbesuchen erzählen, viele sind lustig, manche traurig. Eine ist ihm besonders in Erinnerung geblieben: „Ich wurde zu einer Frau gerufen, die Schmerzen im Unterschenkel hatte. Das Problem: Sie wohnte im ersten Stock und war nicht in der Lage, die Treppe herunterzukommen und mir die Tür zu öffnen. Es war auch sonst niemand im Haus, der hätte helfen können.“ Mast hatte eine unkonventionelle Lösung parat: „Die Frau legte sich auf einen Tisch, der am Fenster stand, und lies das schmerzende Bein dann durchs Fenster nach unten hängen, während ich mein Auto direkt unter das Fenster gefahren habe und dann aufs Dach geklettert bin. So habe ich ihr Bein erreicht und konnte ihr auch helfen.“

Mast hat heute noch sechs Patienten, zu denen er regelmäßig nach Hause kommt. „Ich habe ihnen versprochen, dass ich das mache, bis ich in den Ruhestand gehe“, so der 71-Jährige. Sein Nachfolger Tscheuschner wird die Patientenversorgung in diesem Rahmen nicht mehr fortführen. „Im Schnitt machen ich jetzt schon viel weniger Hausbesuche als mein Kollege, vielleicht ein bis zwei Besuche in der Woche“, sagt der 36-Jährige. Ihm sei durchaus bewusst, dass sich die Patienten über eine solche „Sonderleistung“ freuen, er sehe sie allerdings als „Zeit, die besser genutzt werden kann“, und erklärt: „Die Behandlung bei Hausbesuchen dauert grundsätzlich nicht länger als in der Praxis. Allerdings muss ja auch immer noch der Weg hin und wieder zurück miteingerechnet werden. Und das kostet einfach viel Zeit, die ich für andere Patienten nicht habe.“ Wenn Bedarf bestünde, etwa bei akuten Schmerzen oder bei Patienten, die bettlägerig sind und sich auch von Verwandten nicht mehr in die Praxis bringen lassen können, wird Tscheuschner auch weiterhin Hausbesuche machen. „Das ist natürlich kein Thema. Ich bin hier für alle Menschen verantwortlich, auch für die, diees nicht mehr in die Praxis schaffen.“

Arzthelferinnen sollen den

Ärzten mehr Arbeit abnehmen

Woran es liegt, dass Ärzte immer weniger Hausbesuche machen, ist für Allgemeinarzt Franz Wernet aus Sulzbach klar: „Wie bei allem geht es hier am Ende nur ums Geld. Hausbesuche lohnen sich finanziell nicht, für Ärzte ist diese Art der Patientenbetreuung meistens eine Nullnummer. Und die Zeit, die wir bei einem Patienten zu Hause verbringen, lässt sich wirtschaftlich besser nutzen“, so der Arzt. Allerdings müsse man hier unterscheiden: „Routinehausbesuche nein, Hausbesuche bei akuter Erkrankung ja. Als ich die Praxis in Sulzbach 2008 übernommen habe, hat mir meine Vorgängerin 40 Patienten überlassen, bei denen sie regelmäßig Hausbesuche durchgeführt hat, zum Teil sogar wöchentlich. In jeder Mittagspause war ich unterwegs.“ Ausschlaggebend, die Zahl der Hausbesuche drastisch zu verringern, war für Wernet ein Ereignis: „Ich war auf dem Weg von meinem dritten Hausbesuch zum vierten. Da sehe ich die Dame, bei der ich meinen ersten Hausbesuch des Tages gemacht habe, wie sie zu Fuß zur Apotheke läuft und das von mir verschriebene Rezept einlöst – zu mir in die Praxis konnte sie aber nicht kommen. Das hat mich dann doch geärgert.“

Nach diesem Erlebnis hat Wernet die Zahl seiner Hausbesuche radikal gekürzt: Nur etwa zwei- bis dreimal in der Woche fährt der Arzt vor oder nach der Sprechstunde zu seinen Patienten nach Hause – und dann auch tatsächlich nur, wenn der Bedarf besteht, sprich die Patienten keine Möglichkeit haben, in die Praxis zu kommen. „Hausbesuche nur zur Routine sind heute einfach nicht mehr gerechtfertigt, wir Ärzte haben einfach keine Zeit für Kaffeekränzchen mit unseren Patienten“, so der Allgemeinarzt. Akute Hausbesuche hingegen hält er nach wie vor für wichtig.

„Zugenommen hat der Pflegebedarf per Hausbesuch in den vergangenen Jahren deutlich in der Altenpflege“, sagt Wernet. Rund 150 Patienten in verschiedenen Einrichtungen werden von ihm betreut. „Die niedergelassenen Ärzte müssen diesen zugenommenen Pflegebedarf per Hausbesuche mitversorgen.“ Das sei allerdings für ihn in Ordnung. „Seit ich keine Routinehausbesuche mehr mache, fahre ich gerne zu den akut Erkrankten nach Hause.“

Wernet sieht in Bezug auf das Thema Hausbesuche keinen Notstand: „Eine meiner Arzthelferinnen hat eine spezielle Zusatzausbildung, sie fährt morgens schon bei manchen Patienten daheim vorbei, nimmt beispielsweise Blut ab und berichtet mir dann über den Zustand des Kranken.“ Diese Aus- beziehungsweise Fortbildung wird auch von der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) gefördert. Pressesprecher Kai Sonntag erklärt: „Arzthelferinnen und Praxisassistentinnen werden durch eine Fortbildung dahin gehend geschult, dass sie bei Hausbesuchen den Arzt vertreten, unterstützen und zeitlich entlasten können. Das bezieht sich dann vor allem auf Tätigkeiten, für die man nicht speziell einen Arzt braucht.“

Sonntag betont, dass die KVBW kein Interesse daran habe, dass Hausbesuche eingeschränkt werden – im Gegenteil. Man sei sich im Klaren, dass diese Art der Patientenbetreuung mit großem zeitlichem Aufwand verbunden ist, weil für den Zeitraum des Hausbesuchs der Praxisbetrieb eingeschränkt wird. Dennoch sei man „froh um jeden Arzt, der Hausbesuche macht“. Sonntag verstehe aber, dass das Thema Hausbesuche ein schwieriges ist. „Ein Arzt wird mit Hausbesuchen nicht viel Geld verdienen. Je nach Aufwand kann ein solcher Besuch zwar ganz schnell gehen. Aber im Schnitt veranschlagen wir pro Hausbesuch, inklusive Hin- und Rückweg, locker eine Stunde, eher mehr. Und in dieser Zeit lassen sich in einer Praxis natürlich mehrere Patienten versorgen.“

Versorgung aller Patienten

ist nach wie vor Pflicht

Wie viel ein Hausarzt an einem Hausbesuch verdient, ist kompliziert. Sonntag erklärt: „Kommt ein Patient in die Praxis, kriegt der Arzt für diesen Termin eine Grundpauschale. Darin enthalten sind bestimmte Leistungen, wie etwas die Anamnese und das Blutdruckmessen. Alles Weitere kann der Arzt als Leistung zusätzlich abrechnen. Die Grundpauschale pro Patient bekommt der Arzt nur einmal im Quartal, egal ob der Patient alle drei Tage in die Praxis kommt oder es bei einem Termin bleibt. Diese Pauschale bekommt der Arzt auch bei einem Hausbesuch. Und auch hier ist es so: Egal ob er einmal oder fünfmal im Quartal zu einem Patienten fährt – die Grundpauschale bekommt er nur einmal bezahlt. Pro Hausbesuch gibt es dann Zuzahlungen, je nachdem zu welcher Uhrzeit der Hausbesuch stattfindet, ob es ein Notfall ist oder ob der Arzt in ein Pflegeheim fährt oder nicht.“ Festgesetzt werde diese Preisliste von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und ist für alle Bundesländer bindend, so Sonntag. Der Pressesprecher äußerte zwar Verständnis gegenüber Hausärzten, die Hausbesuche aufgrund einer Kosten-Nutzen-Rechnung reduzieren, „dennoch ist die Versorgung aller Patienten verpflichtend – egal ob zu Hause oder in der Praxis“.

So viel verdienen Ärzte bei Hausbesuchen Info Die Grundpauschale für einen Patienten, die der Hausarzt bezahlt bekommt, beträgt rund 30 Euro – egal ob Hausbesuch oder in der Praxis. Diese Pauschale kann pro Patient nur einmal im Quartal abgerechnet werden – egal wie oft der Patient Hilfe benötigt. Sonderleistungen wie etwa Ultraschall rechnen die Ärzte zusätzlich ab. Für einen Standardhausbesuch tagsüber bekommt der Arzt zusätzlich zur Grundpauschale noch 22,59 Euro. Für dringende Hausbesuche, die etwa eine Praxisschließung verlangen, gibt es 66,70 Euro. Regelmäßige Hausbesuche in Pflegeheimen sind wieder anders vergütet. Zu den 22,59 Euro für Hausbesuche gibt es beim ersten Patienten noch einmal 12,50 Euro dazu, für jeden weiteren Patienten 23,75 Euro. Findet der Hausbesuch abends statt, wird er mit 49,97 Euro vergütet, nachts sogar mit 66,70 Euro. Zusätzlich gibt es für den Arzt Weggeld. Über Tag 3,20 Euro für Hin- und Rückfahrt, wenn der Einsatzort bis zu zwei Kilometer entfernt ist (nachts: 6,30 Euro). Für Entfernungen zwischen zwei und fünf Kilometern gibt es 6,30 Euro (nachts: 9,80 Euro), für jeden Einsatz, der weiter entfernt ist, 9,20 Euro (nachts :13,20 Euro).
Dr. Benjamin Tscheuschner will Hausbesuche nur noch in akuten Fällen machen.

© Jörg Fiedler

Dr. Benjamin Tscheuschner will Hausbesuche nur noch in akuten Fällen machen.

Dr. Walter Mast arbeitet seit fast 40 Jahren als Arzt. Er hat Hausbesuche immer genossen.

© Jörg Fiedler

Dr. Walter Mast arbeitet seit fast 40 Jahren als Arzt. Er hat Hausbesuche immer genossen.

Zum Artikel

Erstellt:
5. Juli 2018, 06:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen