Heimat, Freundschaft, Krieg und Frieden als Themen
Thomas F. Naegele – Grafiker, Pädagoge und Erzähler: Die Städtische Galerie Murrhardt zeigt erstmals eine umfassende Ausstellung seiner Arbeiten
Es ist ein vollgepacktes Leben im umfassenden Sinne: Thomas F. Naegele erlebt als Jugendlicher die Flucht der Familie aus Nazideutschland nach Amerika. Für den Sohn des Malers Reinhold Nägele wird New York zur Heimat, ohne dass die Verbindung nach Deutschland abbricht. Er arbeitet als Grafiker und Kunsterzieher, gründet eine Familie und beobachtet die Welt um sich herum mit Klugheit und Humor. Die Kunstsammlung Murrhardt widmet ihm nun eine große Schau.
Von Christine Schick
MURRHARDT.„Die Ausstellung soll wie eine Art Brennglas Leben und Arbeit von Thomas F. Naegele in den Blick nehmen“, sagt Gabriele Rösch. Dass die Kuratorin dabei auf einen großen Schatz an Arbeiten zurückgreifen kann, hat der Freundeskreis Thomas F. Naegele ermöglicht. Über zwei Drittel der Bilder stammen aus Privatbesitz und können nun erstmals einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Vor dem Hintergrund eines prall gefüllten Lebens – Thomas F. Naegele ist heute 94 Jahre – hat Rösch die Arbeiten thematisch gegliedert. „Es ist spannend, zu sehen, welche Themen auftauchen und ihn bewegen, beispielsweise der Kontakt zur Heimat, Freundschaft zwischen Ländern oder Krieg und Frieden“, sagt sie und geht zu einem Bild, auf dem sich eine bunte Schar an Menschen – es sind einfach ihre vielen Köpfe sichtbar – versammelt, vor ihnen die in Weiß ausgesparte Skulptur des Denkers und dazu der Schriftzug: „Denkt, dass wir alle ein Mensch sind“. Es ist ein Motiv, das sozusagen im Dialog mit dem Vater steht – in der Galerie hängt auch das in Schwarz-Weiß gehaltene Bild zum selben Titel von Reinhold Nägele.
Einzelne Motive tauchen
beim Vater und beim Sohn auf
Nicht nur einzelne Szenarien und Motive wie Luftballons tauchen genauso beim Sohn auf, auch der humorvolle Blick setzt sich bei Thomas F. Naegele auf seine eigene Weise fort. Im Zyklus der Jahreskarten für die Reinhold-Nägele-Realschule Weinstadt, ein Projekt über die Zeit von 1984 bis 2018, fasst er in einem der Exemplare beispielsweise das Projekt Stuttgart21 als „Kinderspiel“, bei dem seine feine Ironie und sein enger Kontakt zu Süddeutschland und der Region deutlich werden: Ein völlig vertiefter Mann, vermutlich ein Vater, mitten in einer Modelleisenbahnlandschaft mit Kindern und einer Zugstrecke, die unterirdisch verläuft. Umweltzerstörung, Umweltschutz sowie Krieg und Frieden sind in der Reihe genauso präsent. „Das sind klare Statements, da ist er auch politischer als sein Vater. Bei Reinhold Nägele war das eher indirekt spür- und sichtbar“, sagt Gabriele Rösch.
An anderer Stelle werden die biografisch-historischen Bezüge deutlich: Die Kuratorin zeigt ein Bild, auf dem sich ein Junge mit Fahrrad einem Anführer und seiner Jungvolkgruppe gegenübersieht. Der jugendliche Thomas besuchte 1935 das Dillmann-Gymnasium in Stuttgart, in dem im gleichen Jahr der Hitlergruß eingeführt worden war. „Thomas wusste, was täglich auf ihn zukam, wenn er zur Schule ging. Er wusste, dass er und seine Familie zur Zielgruppe gehörten, die der irrationalen Feindschaft und Verfolgung der Nazis ausgesetzt war. Die Mutter, die sich selbst als jüdische Schwäbin bezeichnete, hatte bereits 1933 ihre Kassenzulassung als Ärztin verloren“, schreibt Rudolf Berkenhoff, ehemaliger Rektor an der Reinhold-Nägele-Realschule Weinstadt, in der Einführung des Katalogs zur Ausstellung. Die Familie konnte fliehen, die Großmutter, Helene Nördlinger, schaffte es nicht, ein Stolperstein in der Hölderlinstraße 7 in Stuttgart erinnert an sie. (...) „Thomas fasst die kindliche Liebe zur Großmutter 2008 in folgende Verse: Fest hielt die Oma mich auf ihren Knien, mich kleinen Reiter, der so hell gelacht. – Ich durfte noch beizeit entfliehen, sie, aber wurde schrittweis umgebracht...“
Ein Extrakapitel wären seine Erfahrungen als 20-Jähriger in Nebraska mit den deutschen Kriegsgefangenen, denen er als Dolmetscher, damals schon im Dienst der US-Army, zugewiesen wurde.
Der Künstler hat in Bezug auf Krieg und Frieden, Bewahrung von Menschlichkeit und Schöpfung nicht weniger als die ganze Welt im Visier. Sie taucht schon in der Jahreskartenreihe für die Reinhold-Nägele-Realschule auf und wird im Atlas der Weltweisheiten, ein weiteres Themenfeld der Ausstellung, zum generellen Symbol, das Naegele themenspezifisch bearbeitet.
Die Schau wirft auch Schlaglichter auf seine stilistische Bandbreite. Mal sind die Bilder reine Gemälde, mal tritt die grafische Gestaltung ganz in den Vordergrund. Insgesamt ist der Grafiker mit seiner Klarheit unverkennbar. Der Erzähler lässt sich ganz explizit bei Illustrationen zum Werk Eduard Mörikes „Der alte Turmhahn“ entdecken. Auch hier wird die Verbindung nach Schwaben wieder deutlich, zudem sind in der Ausstellung auch eine ganze Reihe Murrhardter genauso wie Stuttgarter Motive mit aufgenommen. Szenen aus den USA und New York ergänzen die Schau.
Und immer wieder kann man den klugen, humor- und liebevollen Blick des Künstlers im doppelten Sinne bewundern – ob beim Bild, das er seinem Vater, dem Seiltänzer, gewidmet hat, bei einer wuseligen Alltagsszene im Fernsehstudio oder der Weihnachtskarte „Xmas Airmail“, auf der sich Nikolaus samt Festpost und Rentieren auf dem Flugplatz tummeln.
Naegeles Sohn Jolyon ist bei der Vernissage dabei Info Der Grafiker und Kunsterzieher Thomas F. Naegele ist 1924 in Stuttgart geboren. Nach der Emigration der Familie Nägele 1939 in die USA besuchte er die High School of Industrial Art in New York. Er arbeitete als Grafiker bei Vogue, House & Garden sowie als TV-Grafiker und Art Director für das amerikanische und englische Fernsehen. Zudem war er in einer Werbeagentur tätig und gestaltete von 1947 bis 1996 für den Verlag American Artists Group 150 Weihnachtsmotive. Im Jahr 1966 wurde er Dozent am Pratt Institute und an der High School of Art & Design. Als Anerkennung für diese Tätigkeit zeichnet ihn die Stadt New York im Jahr 1990 als „Kunsterzieher des Jahres“ aus. Die Murrhardter Ausstellung wird morgen um 11 Uhr in der städtischen Galerie Murrhardt, Oetingerstraße 1, eröffnet. Jolyon Naegele, Sohn von Thomas F. Naegele, gehört zu den Rednern. Kunstgespräche mit Gabriele Rösch in der Galerie zur Ausstellung finden am Mittwoch, 26. September, und Mittwoch, 28. November, jeweils um 19 Uhr statt. Die Ausstellung ist bis zum Sonntag, 3. März 2019, samstags, sonn- und feiertags, von 13 bis 17 Uhr zu sehen. Der Eintritt ist frei. Weitere Infos gibt es beim Kulturamt der Stadt Murrhardt unter der Telefonnummer 07192/213-222.