Hilfe statt Anonymität unter Nachbarn
Heike Oesterle und Bärbel Nickel legen den Finger auf einen wunden Punkt: Allein lebende ältere oder kranke Menschen, denen es an sozialen Kontakten fehlt, sind gefährdet. Geraten sie etwa durch einen häuslichen Unfall in eine hilflose Lage, droht ein tragischer Ausgang.
Von Armin Fechter
WEISSACH IM TAL. Heike Oesterle und Bärbel Nickel wissen, wovon sie sprechen. Denn sie haben in ihrer Umgebung schon traurige Fälle erlebt. Bärbel Nickel erinnert sich beispielsweise an eine Situation, da blieben an einem Haus in der Straße ein paar Tage lang die Rollläden immer zu,
was auch einer anderen Nachbarin auffiel. Vom Bewohner, der sonst ab und zu durch den Garten streifte, war nichts zu sehen. Schließlich verständigten die Frauen die Polizei. Feuerwehr und Rettungswagen fuhren vor und als die Helfer in das Gebäude eindrangen, stellte sich heraus, dass der sehr zurückgezogen in dem Haus lebende Mann – alleinstehend, keine Angehörigen – verstorben war.
Die 83-jährige Oberweissacherin berichtet noch von einer anderen Situation. Da hatte sie bei einem alleinstehenden Nachbarn geklingelt, weil ihr aufgefallen war, dass dessen Garage schon längere Zeit offen stand – ungewöhnlich für den Mann, der sonst häufig unterwegs war. Was war geschehen? Der Zuckerkranke hatte sich etwas benommen gefühlt, hatte sich hingelegt und war eingeschlafen. Über den Arzt, der sofort Bescheid wusste, wurde dann der Notdienst alarmiert, sodass der stark Unterzuckerte versorgt werden konnte. „Wäre ich nach Hause gegangen, hätte er nicht überlebt“, blickt die agile Seniorin zurück.
Hausnotruf verspricht Hilfe auf Knopfdruck
Heike Oesterle pflichtet ihr bei. Die Gemeinderätin, die im Weissacher Tal auch durch ihre Aktivitäten im Akkordeonorchester bekannt ist, erinnert sich an den Tod ihres Schwiegervaters. Nachbarn hatten bemerkt, dass an seinem Haus das Kellerfenster offen stand, obwohl es kräftig regnete. Durch die Terrassentür konnte man den älteren Mann dann am Boden liegen sehen. Er war gestürzt und hatte sich den Kopf angeschlagen – eine Verletzung, die den Bluterkranken letztlich das Leben kostete. „Ich hätte es erst drei Tage später beim Sonntagsbesuch erfahren, wenn nicht der Nachbar angerufen hätte“, schildert Heike Oesterle ihre Betroffenheit.
In der Tat kommt es gar nicht so selten vor, dass die Polizei in Aktion treten muss, wenn aus einem Haus oder einer Wohnung keine Lebenszeichen mehr zu vernehmen sind. Allerdings wird über Einsätze in solchen Akutsituationen nicht Buch geführt, es gibt keine statistischen Daten, wie Maurice Haehl vom Polizeipräsidium Aalen erläutert. Die Polizei sei da im Grunde auch gar nicht zuständig: „Wenn nicht ein Messer im Rücken steckt, ist es kein Fall für uns.“ Denn in aller Regel handle es sich um medizinische Angelegenheiten: „Wir sehen nach, übergeben dann aber an den Rettungsdienst oder den Notarzt.“ Älteren alleinstehenden Menschen rät der Beamte auf jeden Fall dazu, sich mit technischen Hilfsmitteln abzusichern, damit ein kleines Missgeschick nicht tragisch enden muss.
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Solche Geräte halten Hilfsorganisationen wie das Deutsche Rote Kreuz, der Malteser Hilfsdienst, der Arbeiter-Samariter-Bund und andere vor. Für seinen Hausnotruf wirbt beispielsweise das DRK Rems-Murr mit dem Slogan „Hilfe auf Knopfdruck“. Christian Siekmann vom DRK-Kreisverband unterstreicht: „Der Hausnotruf bietet hier wirklich alles und kann auf die Bedürfnisse der Menschen zugeschnitten werden.“ Ein Alarm kann einfach per Knopfdruck ausgelöst werden, ein mobiler Funksender mit Freisprecheinrichtung bietet zudem die Möglichkeit, mit der Notrufzentrale zu sprechen, damit je nach Art des Notfalls die Angehörigen, Nachbarn, der Hausarzt oder der Rettungsdienst informiert werden können – und das rund um die Uhr.
Heike Oesterle und Bärbel Nickel wollen in Sachen Prävention aber nicht allein an diesem Punkt ansetzen. Sie wissen nur zu gut, dass Ältere mitunter eigen werden und technischen Firlefanz für sich ablehnen. Ihnen geht es deshalb vielmehr um den gesellschaftlichen Aspekt, darum, dass in der Nachbarschaft weniger Distanz, weniger Anonymität herrscht und dass die Menschen mehr aufeinander zugehen, mehr Aufmerksamkeit und Interesse zeigen.
Ab und zu einfach mal bei den Nachbarn klingeln
„Immer mehr Menschen leben einsam“, bemerkt Oesterle – ein Problem, das längst auch in Wissenschaft und Politik angekommen ist. So erklärte der Neurologe Manfred Spitzer erst dieser Tage vor dem Deutschen Ethikrat, dass Einsamkeit die Sterblichkeit in stärkerem Ausmaß steigere als bekannte Risikofaktoren wie Rauchen oder Übergewicht. Einsamkeit, so seine plakative Mahnung, sei „der Killer Nummer eins“. Die Bundesregierung hat sich derweil ebenfalls des Themas angenommen: Im Familienministerium wird an einer Strategie gegen Einsamkeit gearbeitet. Und was die Situation vor Ort betrifft: „Hier sollte die Nachbarschaft vielleicht öfter den Mut aufbringen, mal zu klingeln“, meint Oesterle und gibt dazu einen Rat: „Vielleicht mit dem Satz: Ich habe Sie schon lange nicht mehr gesehen – ist alles in Ordnung? Oder: Ich gehe einkaufen, brauchen Sie auch noch was?“ Gerade Letzteres, so ihre Erfahrung, erfreue die ältere Generation. Zugleich unterstreicht Oesterle: „Dies hat nichts mit Überwachen zu tun, sondern einfach nur mit Menschlichkeit.“
Auch der Weissacher Ortsseniorenrat will sich des Themas annehmen. Der Vorsitzende Uwe Rahr hat angekündigt, die Angelegenheit bei der nächsten Sitzung am 9. Juli aufzugreifen. Spontan empfiehlt er älteren, allein lebenden Menschen, die technischen Möglichkeiten auszuschöpfen – sie sollten „den Notknopf am Arm tragen“. Weitere Gedanken gehen dahin, die Kontaktpflege von Senioren untereinander mithilfe der Gemeinde zu stärken. Einen möglichen Ansatzpunkt sieht Rahr auch bei der alljährlichen Seniorenweihnachtsfeier. Dort könnten Informationen und Austausch stattfinden. Wichtig sei aber auf alle Fälle, dass die Senioren aktiv dazu beitragen.