Hochbegabten Kindern auf der Spur
Interview: Julia Schiefer vom Hector-Institut der Universität Tübingen referiert heute Abend in der VHS über ihre Forschungen
Schüler mit besonderen Begabungen sollten auf jeden Fall gefördert werden, sagt Julia Schiefer. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hector-Institut referiert heute Abend in der VHS Backnang über ihre Forschungen. In ihrem Vortrag stellt sie Grundlagen der Entwicklung und Identifikation von besonders begabten und hochbegabten Kindern und Jugendlichen sowie verschiedene Ansätze zur Förderung im schulischen wie außerschulischen Kontext vor.
Von Florian Muhl
Der Titel Ihres Vortrags heute Abend lautet: („Hoch“)begabte Kinder erkennen und fördern. Wann spricht man von Hochbegabung?
Da gibt es unterschiedliche Herangehensweisen. Allen Ansätzen gemein ist, dass ein hohes intellektuelles Potenzial, also eine hohe Denk- und Problemlösefähigkeit, vorhanden sein muss. Der Fokus kann dabei auf sprachlichen, mathematischen, logischen oder auch räumlich-abstrakten Fähigkeiten liegen.
Wie sieht es beispielsweise mit musisch begabten Kindern aus?
Die Hochbegabung bezieht sich in den meisten Fällen auf eine hohe intellektuelle Begabung. In den anderen Bereichen spricht man eher von Talenten; beispielsweise bei einer hohen Musikalität oder Sozialkompetenz oder auch bei einer hohen künstlerischen oder sportlichen Begabung.
Wer entdeckt die Fähigkeiten bei Kindern?
In der Regel fallen diese Kinder sehr, sehr früh auf. Deswegen sind es natürlich auch häufig die Eltern, die als erste merken, dass das Kind eine schnelle Auffassungsgabe hat oder vielleicht auch schneller in seiner Entwicklung ist als andere Kinder. Aber es kann auch sein, dass besondere Fähigkeiten und Begabungen erst dann auffallen, wenn das Kind in Kontakt kommt mit anderen Kindern, beispielsweise in der Kita oder im Kindergarten. Es gibt aber auch Menschen, die erst im Schulalter oder im Erwachsenenalter als hochbegabt erkannt werden.
An wen können sich Eltern wenden, wenn sie denken, dass ihr Kind besonders begabt ist?
Die erste Förderung findet meist im Elternhaus statt, weil zunächst ein interessierter Erwachsener die ideale Ansprechperson ist für ein Kind, das neugierig ist, viele Fragen stellt und viel wissen möchte. Manchmal wird auch im Kindergarten oder in der Schule festgestellt: Da besteht ein Handlungsbedarf. Beim Verdacht auf das Vorliegen einer Hochbegabung können sich Eltern an Schulpsychologen oder spezielle Beratungsstellen wenden.
Wie wird dann festgestellt, ob das Kind hochbegabt ist?
Es gibt keine Liste von Merkmalen, anhand der man eine Begabung oder eine Hochbegabung eindeutig feststellen kann, weil begabte Kinder sehr vielfältig sind. Das wird auch Thema des Vortrags sein, dass man mit Eltern- oder Lehrer-Checklisten sehr vorsichtig sein muss. Wenn man eine eindeutige Einschätzung möchte, ist in der Regel eine diagnostische Abklärung durch beispielsweise einen Schulpsychologen, der dann auch einen standardisierten Intelligenztest einsetzen kann, die beste Möglichkeit.
Wie viel Prozent der Kinder sind denn hochbegabt?
Nach der klassischen Definition spricht man von Hochbegabung ab einem Intelligenzquotienten von 130, was ungefähr zwei Standardabweichungen über dem Mittelwert liegt. Einen solchen Wert erzielen zwei bis drei Prozent aller Kinder. Aber schon die oberen zehn bis 15 Prozent einer Altersgruppe sind als überdurchschnittlich begabt einzuschätzen. Auch bei diesen Kindern besteht ein besonderer Förderbedarf, auch wenn dieser nicht ganz so extrem ausgeprägt ist wie bei einem hochbegabten Kind.
Sollten hochbegabte Kinder gefördert werden, und wenn ja, warum?
Bei einer Hochbegabung liegt zunächst ein sehr hohes Entwicklungspotenzial vor, und das sollte auf jeden Fall gefördert werden. Man kann sich das vorstellen wie bei einem musischen oder sportlichen Talent: Wenn man die Fähigkeiten nicht nutzt oder trainiert und weiterentwickelt, können diese auch verkümmern und es ist dann sehr unwahrscheinlich, dass man in irgendeinem Bereich besondere Leistungen zeigt. Eine Folge kann auch sein, dass die Kinder sehr unzufrieden werden, wenn man nicht auf ihre Bedürfnisse eingeht.
Seit wann werden hochbegabte Kinder gefördert?
Das Thema Begabtenförderung und die Tatsache, dass man sich überhaupt mit der Intelligenz von Kindern beschäftigt, feiert jetzt fast 100-jähriges Jubiläum. In den 1920er-Jahren hat man damit begonnen, Intelligenz zu messen und einen Intelligenzquotienten zu definieren. In Deutschland hat man sich mit Begabung und Hochbegabung ab den 1980er-Jahren verstärkt beschäftigt. Aber das Thema ist erst seit gut 15 Jahren in den Fokus der Bildungsforschung und Bildungspolitik gerückt. Seit diesem Zeitpunkt gibt es in Baden-Württemberg beispielsweise Begabtenzüge an Gymnasien oder spezielle Schulen wie das Landesgymnasium für Hochbegabte in Schwäbisch Gmünd.
Was meinen Sie mit: im Fokus der Bildungspolitik?
Beispielsweise die Förderstrategie der Kultusministerkonferenz im Jahr 2015, in der festgehalten wurde, dass besonders begabte und leistungsstarke Kinder ein Recht darauf haben, ihren Potenzialen entsprechend gefördert zu werden.
Wie sieht die Förderung der Kinder in der Praxis aus?
Die kann sehr unterschiedlich aussehen und hängt davon ab, wie hoch die Begabung ausgeprägt ist und was Eltern bereits mit ihren Kindern machen, welche Angebote ein Kind schon nutzt und welche Interessen es hat. In der Grundschule bleiben die Kinder in der Regel in ihrer Klasse. Mit den Lehrern kann dann besprochen werden, wie man dennoch individuell auf die Begabungen eingehen kann. Das kann beispielsweise durch vertiefende Aufgaben passieren, die die Kinder im Rahmen der Klasse erarbeiten. Es gibt auch die Möglichkeit, eine Klasse zu überspringen, oder Zusatzangebote, die nachmittags stattfinden können. Da gibt es aber kein Patentrezept. Da muss man ganz individuell aufs Kind schauen, welche Bedürfnisse es hat.
Wie sieht Ihre Arbeit an der Universität Tübingen aus?
Am Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung gibt es einen Forschungsschwerpunkt „Potenzialentwicklung und Hochbegabung“, wo wir uns mit Fragen der angemessenen Förderung und Identifizierung von besonders begabten Kindern beschäftigen. Ich arbeite in einem Projekt, wo wir im Mint-Bereich, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik, außerunterrichtliche Förderprogramme entwickeln. Diese Kurse finden an den Hector-Kinderakademien statt und sollen Kinder zusätzlich in Themenbereichen fördern, die über den Grundschulunterricht hinausgehen. Das Besondere ist, dass eine wissenschaftliche Begleitung von diesem Programm stattfindet. Das heißt, wir prüfen, ob die Kinder in diesen Kursen wirklich etwas lernen, ob die Kurse wirksam sind und beispielsweise die Interessen und Motivation der Kinder fördern.
Und ihre Arbeit am Tübinger Institut für Hochbegabung?
Hier liegt der Fokus auf der individuellen Diagnostik und Beratung. Wir sind eine Anlaufstelle für Eltern, die den Verdacht haben, dass ihr Kind eventuell besonders begabt sein könnte. Dort wird eine Einzelfalldiagnostik durchgeführt, inklusive Intelligenztest und Beratung.
Der Vortrag („Hoch“)begabte Kinder erkennen und fördern von Julia Schiefer findet heute Abend in der Volkshochschule Backnang, Bahnhofstraße 2, Raum 3, im Rahmen der Backnanger Bildungsgespräche statt. Beginn ist um 19.30 Uhr (Einlass ab 19 Uhr). Der Eintritt kostet fünf Euro, Schüler haben freien Eintritt.
Julia Schiefer (Foto: Universität Tübingen) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung der Universität Tübingen und beschäftigt sich in ihrer Forschung mit der Entwicklung und Evaluation von wirksamen Förderangeboten für besonders begabte und hochbegabte Kinder.
Zudem war Schiefer als Schulpsychologin an einer Schule für Hochbegabte tätig und bietet seit 2005 am Tübinger Institut für Hochbegabung individuelle Untersuchungen und Beratungen zur Begabungs- und Persönlichkeitsentwicklung von (hoch)begabten Kindern und Jugendlichen an.
Schiefer promovierte im Januar 2017 im Fach Psychologie an der Universität Tübingen; Titel: Promoting and Measuring Elementary School Children’s Understanding of Science.