„Ich blicke mit Tränen zurück auf die Zeit“

Nachtleben in alten Zeiten In welche Kneipen und Wirtschaften, Bars und Diskotheken ist man vor 20, 30 oder 40 Jahren in Backnang und drum herum gegangen, wenn die Sonne untergegangen war? Im Interview erinnert sich der ehemalige Juze-Vorstand Armin Holp an hippe Lokale.

Bildungsreferent Armin Holp, der in zwei Jahren seinen 50. Geburtstag feiert, erinnert sich an die Kneipen seiner Jugend. Foto: Alexander Becher

© Alexander Becher

Bildungsreferent Armin Holp, der in zwei Jahren seinen 50. Geburtstag feiert, erinnert sich an die Kneipen seiner Jugend. Foto: Alexander Becher

Rems-Murr. Zum Auftakt der neuen Serie „Nachtleben in alten Zeiten“ spricht Armin Holp über die Bedeutung des Ausgehens für junge Menschen. Er richtet dabei auch den Blick auf Lokalitäten, die ab den 90er-Jahren hip waren und in denen er selbst unterwegs war.

Weggehen, um die Häuser ziehen, die Nacht zum Tag machen – was ist der Reiz daran?

Es ist die Gemeinschaft. Miteinander Spaß haben. Da geht man raus, lernt Leute kennen und hat Spaß mit ihnen, kann tanzen, trinkt was, ist lustig.

Welche Erwartungen werden damit verknüpft?

Es geht ja meistens bei jungen Leuten darum, Partner kennenzulernen. Das sagt zwar keiner so, aber das ist im Prinzip das Hauptmotiv. Und die, die einen Partner haben, gehen mit, weil alle anderen weggehen. Die Paare wollen miteinander noch einmal die Gemeinschaft stärken, aber die anderen sind im Prinzip auf Partnersuche.

Welche Rolle spielt das Ausgehen für die Entwicklung junger Menschen?

Außer Partner zu finden auch das Networking. Im Nachtleben lernt man, wie man Kontakte zu anderen Menschen knüpft. Wir hatten einen Mitschüler in unserer Klasse, der hat das Abitur mit 4,0 gemacht. Er war natürlich der Oberpartyhengst – und hat heute den meisten beruflichen Erfolg, weil er auf jeder Messe alles abräumt. Wie gehe ich auf Leute zu? Wie spreche ich Leute an? Wie lerne ich neue Leute kennen? Das sind Dinge, die lernt man beim Ausgehen tatsächlich. Aber auch: Gemeinschaft, Freundschaft, füreinander einstehen – und wenn der eine mal Probleme hat, was bei sehr üppigem Feiern auch passieren kann, dann muss man füreinander da sein.

Ausgehen wirkt also auch, wenn man das so zusammenfassen kann, persönlichkeitsbildend?

Mit am meisten, würde ich sogar sagen. Früher in der Schule war ich ja auch einer, der eher nicht so brav war. Aber ich habe draußen viel gelernt, was ich heute in meinem Job brauchen kann – einfach, weil man soziale Kontakte geknüpft hat.

Was macht eine spannende Szene in Ihren Augen aus?

Eine spannende Szene lebt von den Menschen – und es geht dabei nicht nur um die Anzahl, sondern auch darum, wie sich die Szene gibt. Sitzen die Leute alle bloß ruhig da, oder gehen sie mit? Setzen sie auf die Party noch einen obendrauf, weil sie zum Beispiel eine coole Verkleidung mitbringen, weil sie rumtanzen wie die Wilden? Für die Szene ist wichtig: Wie positioniert man sich? Wie gibt man sich? Und auch: Wie ist die Gemeinschaft zueinander?

Kommt es dabei nicht auch ein bisschen auf die Mischung an, was es an Angeboten gibt?

Absolut. Bei der Jugend definiert sich Szene stark durch Subkultur und solche Dinge. In meiner Jugend hat man sich nach Musikstilen ausgerichtet. Da gab es die, die mehr Pop gehört haben, die waren vielleicht eher im Hula Hoop. Wer Rock oder Punk gehört hat, war im Juze, in der Belinda oder in der Bäbbede. Hip-Hop dann eher im Heartbeat, Techno in der Störung und so weiter. Wir haben uns auch in der Kleidung stark nach den Musikrichtungen ausgerichtet, seien es die Kutten im Heavy Metal, die Lederjacken und Frisuren im Punk oder Baseball-Cap und Hoodie bei den Hip-Hoppern.

Wie erinnern Sie sich heute an das Nachtleben in Ihren jungen Jahren?

Die 80er habe ich nur aus der Beobachtung mitgekriegt, da hat man vielleicht mal hingelinst, weil man da auch gern dabei wäre. Mit Weggehen ging es bei mir 1990 los und ich blicke mit Tränen zurück, wenn ich denke, was das für eine schöne Zeit war, wenn man hier früher weggegangen ist. Es gab Szenen, da bist du in eine Kneipe nicht mehr reingekommen, weil’s zu voll war. Die Bäbbede – da hast du keinen Sitzplatz mehr gekriegt. Es gab viele Kneipen, gerade die Ecke Wilhelmstraße, das Bermudadreieck: Monokel, Bierakademie, Bierbörse. Wir waren immer in der Pinte und haben uns jedes Mal gefragt: Wieso gehen wir in die Pinte? Sie war irgendwie komisch eingerichtet, und uns hat das Bier nicht so richtig geschmeckt. Aber man hat gewusst, da treffe ich X, Y und Z, weil alle dort waren.

Wohin hat es Sie noch gezogen, wenn Sie unterwegs waren?

Meine Anfänge waren nicht in Backnang, sondern in Sulzbach an der Murr, in der Belinda. Das war für mich als junger Mann aus Oppenweiler die Adresse. Ich war früher im Bereich Heavy Metal unterwegs. In Backnang bin ich dann beim Juze angedockt, am Anfang vor allem durch Themenabende wie Oktoberfest. Dieses skurrile Bild mit dem Musikverein im Juze, die ganzen Leute mit ihren verrückten Frisuren, die auf den Schrannen „Sierra Madre“ singen, das war super. Die Bierbörse war recht klein und das Publikum etwas älter. Aber das Monokel war eine klassische Jugendkneipe – das, was heute das Wohnzimmer in Backnang ist. In der Bierakademie ist man eher separeemäßig gesessen, weil da diese Holzabtrennungen waren. Da bist du hin, wenn du zu viert oder zu fünft warst, dann hast du gewusst, du sitzt dort in Ruhe, es gibt eine große Bierauswahl – und damit war das eine gute Kneipe. Dienstags war ich oft im Hula Hoop, da gab’s den Mark-Tag – das war zwar überhaupt nicht meine musikalische Welt, aber es gab günstige Getränke, was für mich als Zivildienstleistender total attraktiv war. Donnerstags Belinda. Und dann auch die ganzen Feste hier in der Gegend.

Stimmt der Eindruck, dass die Szene damals sehr bunt war, gefühlt vielleicht sogar bunter als heute?

Es war schon bunter. Man hat sich bunter ausgerichtet. Heute rennen die Leute im Heavy-Metal-Bereich nicht mehr mit einer Kutte rum. Die Rockerszene war auch etwas von damals, die gibt es de facto nicht mehr. Die sind in Rockerkluft, mit Lederhose und Shirt in die Belinda gekommen. Früher lief natürlich auch mehr mit Konzerten, auch in Kneipen, wie man es jetzt noch im Merlin und im Wohnzimmer hat. Es gab auch mehr junge Bands. Heute sind die meisten Ü40, na, eher Ü50.

Wenn Sie zurückblicken: Was fehlt Ihnen am meisten?

Zu wissen, dass es, wenn ich samstagabends weggehe, völlig wurst ist, in welche Kneipe – und dass die voll ist und ich überall jemanden kenne.

Das Gespräch führte Armin Fechter im Februar.

Steckbrief Armin Holp

1975 in Backnang geboren. Aufgewachsen in Oppenweiler-Vorderrohrbach. Hauptschule in Oppenweiler; Mofafahrer (leicht frisiert).

Zweijährige Berufsfachschule Metall in Backnang und erste Erfahrungen mit dem Weggehen als 15-Jähriger, der vom Bruder mitgenommen wurde. Lange Haare. Heavy-Metal-Kutte. Besucher der Belinda, danach der Backnanger Kneipenszene. Jungscharleiter.

Wechsel aufs Technische Gymnasium. Vorstand in der Schülermitverantwortung (SMV). Jugendfeuerwehrleiter. Zivildienst im Jugendhaus Backnang. Besucher des Jugendzentrums.

1997 aktive Mitarbeit im Juze, 1998 bis 2000 als 1. Vorsitzender, danach als Kontrollkommissar.

2000 Abschluss als Diplom-Sozialpädagoge. Jugendhausleiter in Schwaikheim. Einjährige Rucksackreise durch 18 Länder Lateinamerikas. Danach selbstständig als Reiseveranstalter für nachhaltigen Tourismus in Lateinamerika. Parallel Nebenjobs als Sozialpädagoge. Ehrenamtliche Mitarbeit im AK Asyl für zwei Jahre. Drei Jahre als Senior Online Marketing Manager berufstätig. Standortleiter einer Nachhilfeschule.

Durch Corona massiver Einschnitt ins Berufsleben. 50-Prozent-Stelle als Geschäftsführer des Stadtjugendrings Backnang. Sukzessive Einstieg beim Kreisjugendring, mittlerweile dort Bildungsreferent und „Leitung Verbandsarbeit“. Diverse Ehrenämter. inf

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Erstellt:
22. April 2023, 06:00 Uhr

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