„Ich muss nicht mehr, ich darf“

Senioren erzählen, wie ihnen der Eintritt in den Ruhestand gelungen ist und worauf es in der Rente ankommt

Die einen verplanen die neu gewonnene Freizeit vollständig, andere wissen erst einmal nichts mit sich anzufangen. Aus dem Vollzeitjob in den Ruhestand – dieser Schritt ist eine Zäsur, die manchem Beinahe-Rentner Sorgen bereitet. „Wer sich im Vorfeld Gedanken macht, ist im Vorteil“, sagt Harald Hildenbrandt vom Seniorenbüro Backnang.

Siegmund Breckl hat eine Weile gebraucht, bis er die Balance zwischen Hausarbeit, Hobby und Nichtstun gefunden hat. Nun freut er sich, für viele alte und neue Hobbys Zeit zu haben – beispielsweise Bogenschießen und Bögen bauen. Foto: A. Becher

© Pressefotografie Alexander Beche

Siegmund Breckl hat eine Weile gebraucht, bis er die Balance zwischen Hausarbeit, Hobby und Nichtstun gefunden hat. Nun freut er sich, für viele alte und neue Hobbys Zeit zu haben – beispielsweise Bogenschießen und Bögen bauen. Foto: A. Becher

Von Lorena Greppo

BACKNANG. Vor drei Jahren ist Siegmund Breckl in den Ruhestand gegangen. „Seither ist mir nicht langweilig geworden, keinen einzigen Tag“, sagt der 66-Jährige. Seine Hobbys lassen sich sehen: Bogenschießen und die zugehörigen Sportgeräte auch selbst bauen, Französisch lernen, Tai Chi, Engagement im Backnanger Ballonverein, Messer selbst fertigen, gärtnern und Möbel restaurieren – der Backnanger ist vielseitig interessiert. Er sagt aber auch: „Das Nichtstun muss man lernen und es sich auch genehmigen.“ Über die Jahrzehnte der Erwerbstätigkeit sei man darauf programmiert, gebraucht zu werden. Das gebe zwar eine Aufgabe, aber sich von Verpflichtungen zu lösen, sei ebenfalls ein gutes Gefühl. Und etwas, das viele frischgebackene Rentner erst lernen müssen. „Im ersten Jahr nach Rentenbeginn war ich noch voll unter Strom, erst danach ist es etwas ruhiger geworden“, sagt er und fügt an: „Langsam kriege ich eine Balance hin zwischen Arbeit im Haus, Hobby und Nichtstun.“

„Ich muss nicht mehr, ich darf – es hat lange gebraucht, das zu kapieren“, erzählt auch Waltraud Grubbert. Der Renteneintritt vor anderthalb Jahren sei bei ihr unheimlich schnell erfolgt, weswegen sie sich im Vorfeld kaum damit beschäftigen konnte, was auf sie zukommt. Der Stress in ihrem Job als Arztsekretärin im Krankenhaus habe sie zum Ende ihrer Berufstätigkeit stark belastet, sodass die heute 65-jährige Backnangerin die Chance ergriffen hat, früher in Rente zu gehen. „Innerhalb von drei Monaten war ich dann Rentnerin“, erzählt sie. Der Alltag war dann ein neuer. „Es ist auch erst mal ungewohnt, fast 24 Stunden am Tag mit dem Partner zu verbringen“, verrät sie. Erst nach dem Rentenbeginn sei sie auch ins Seniorenbüro gegangen, um sich zu informieren. „Ich wollte ehrenamtlich noch etwas Sinnvolles tun“, sagt Grubbert, räumt aber auch ein: „Gleich loszulegen hat gar nicht funktioniert.“

Viele beginnen den Ruhestand mit einer Urlaubsreise

„Die Mischung macht’s“, erklärt Harald Hildenbrandt. In seinem Berufsalltag hat der Diplom-Sozialarbeiter schon vieles erlebt und weiß: „Den meisten, die zu uns kommen, ist es schon etwas mulmig vor dem Rentenbeginn. Es ist schließlich kein Urlaub, der nach drei Wochen vorbei ist. Danach gibt es kein Zurück mehr.“ Seiner Erfahrung nach beginnen die meisten Menschen ihre Rente mit einer Ruhephase, manchmal auch einer Urlaubsreise, um Abstand zwischen sich und das Arbeitsleben zu bekommen. Darauf freuen sie sich dann auch sehr. Dann habe man auch Zeit, sich um Dinge zu kümmern, die man zuvor aufgeschoben hat.

So hat es auch Heinrich Bernhardt bei seinem Rentenbeginn gehalten. „Ich habe mir gesagt: Ich mache einen großen Urlaub und höre damit nicht auf“, erzählt er. Deshalb sei er zuerst für einige Wochen nach Österreich gefahren. Im Nachhinein sagt der 79-Jährige: „So habe ich den Übergang gar nicht so richtig gespürt.“ Schon vor dem Ruhestand war Bernhardt im DLRG engagiert. Das hat er weiter betrieben und auch neue Beschäftigungen ins Auge gefasst. „Ich habe in Oppenweiler historische Führungen gemacht“, erzählt er. Über seine Frau sei er dann mit dem Seniorenbüro in Kontakt getreten. Einen Zauberkurs hat er mitgemacht, spielt in einer Musikgruppe Gitarre und ist viel in den Bergen unterwegs. „Das Ehrenamt hat über Hürden hinweggeholfen“, weiß der 79-Jährige. Inzwischen werde es weniger – das ist dem Alter geschuldet. Das Gute an der Rente sei: „Der Druck ist weg. Das kommt auch der Gesundheit zugute.“

„Die Leute denken, sie haben in der Rente 40 Stunden in der Woche zu füllen, aber das stimmt nicht“, sagt Hildenbrandt. Die Möglichkeit, länger zu schlafen, sich mehr Zeit fürs morgendliche Zeitunglesen nehmen – seiner Erfahrung nach nehmen die meisten Senioren diese Möglichkeiten wahr und gehen den Alltag deutlich entspannter an. Ein Rezept für ein zufriedenes Altern hat Harald Hildenbrandt schon erkannt: das Leben an das anzupassen, was einem noch möglich ist. „Dazu gehört auch, sich einzugestehen, wenn etwas nicht mehr geht“, sagt er. So hat es Heinrich Bernhardt gehandhabt. Als seine Frau starb, war er plötzlich allein im Haus mit Garten. „Da habe ich die Einsamkeit und die Beschwerlichkeit des Alters gemerkt“, sagt er. Obwohl es ihm mulmig davor war, ist Bernhardt noch einmal umgezogen in eine Wohnung. Die Gartenarbeit muss er dort nicht machen, er helfe aber den Nachbarn mit Erledigungen.

Sich einzubringen sei auch eine Art, mit Schicksalsschlägen umzugehen, so Hildenbrandt. „Die Senioren sehen, was das Leben noch alles zu bieten hat.“ Denn gerade im Alter sei die Familie oft nicht mehr in der Nähe, die Kinder wohnen anderswo. Der Vereinsamung wirkt es entgegen, sich in Vereinen, Interessensgruppen und Projekten zu engagieren, dort Anschluss zu finden und neue Kontakte zu knüpfen. Hildenbrandts Erfahrung ist hierbei: Frauen machen mehr Neues, Männer gehen oft einer Beschäftigung oder einem Hobby nach, das mit ihrem früheren Beruf zu tun hat.

Dass es aber nicht immer ein außergewöhnliches Hobby sein muss, zeigt Waltraud Grubbert. Sie ist gerne draußen in der Natur, strickt Socken, liest, fährt Fahrrad – und ist zufrieden. „Ich muss niemandem etwas beweisen“, sagt sie. Alles, was sie erleben wollte, habe sie bereits erlebt. „Schlimm wäre, wenn man mit allem wartet, bis man in Rente ist.“

Info
Für jeden ist etwas dabei

Das Seniorenbüro Backnang hat es sich zur Aufgabe gemacht, Senioren zu unterstützen und ihnen Impulse zu mehr Eigeninitiative und Selbsthilfe zu geben – egal ob es darum geht, die neu gewonnene Freizeit sinnvoll zu gestalten, neue Kontakte aufzubauen mit Menschen in ähnlicher Situation oder die richtige Anlaufstelle für ein Hilfsangebot zu finden.

In der Broschüre „Wir brauchen Sie“ hat das Seniorenbüro eine Stellenbörse für Ehrenamtliche zusammengefasst. „Darin gibt es für jeden Interessenbereich etwas“, versichert Harald Hildenbrandt. Wer sich nicht sicher ist, ob beispielsweise ein Engagement in einer sozialen Einrichtung etwas für ihn ist, könne auch hospitieren.

Für die Senioren besteht zudem die Möglichkeit, eigene Ideen mit einzubringen und neue Projekte anzustoßen. Natürlich müsse er auf die Ressourcen achtgeben, sagt Hildenbrandt. Schließlich könne er nicht unendliche viele Angebote starten. „Die Verantwortlichen müssen geschult, die Projekte betreut werden“, erklärt er. Dennoch seien so schon einige neue Angebote zustande gekommen.

Das Seniorenbüro Backnang, Im Biegel 13, hat von montags bis donnerstags von 8.30 bis 12 Uhr geöffnet, zusätzlich mittwochs von 15 bis 18 Uhr und freitags von 8.30 bis 13 Uhr. Die Mitarbeiter sind erreichbar unter 07191/894-319 oder per E-Mail an seniorenbuero@backnang.de.

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Erstellt:
29. Oktober 2019, 06:00 Uhr

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