Im Rems-Murr-Kreis sind mehr Menschen abhängig durch Homeoffice
Heute ist der Aktionstag Suchtberatung. An diesem Tag machen Suchtberater auf ihre Arbeit und Entwicklungen bei Suchtkrankheiten aufmerksam. Auffällig ist, dass mehr Menschen am Arbeitsplatz Probleme mit Alkohol haben. Auch die Finanzierung der Angebote ist angespannt.
Von Kristin Doberer
Rems-Murr. Morgens ein Glas Sekt neben dem Laptop, ein Schuss Schnaps in den Kaffeebecher oder schon mittags das erste Bier – ob und wie viel Alkohol Mitarbeiter im Homeoffice konsumieren, das bekommen die Arbeitgeber häufig gar nicht mit. Schließlich riecht keiner bei Videokonferenzen eine Alkoholfahne. Kein Wunder also, dass gerade durch die Coronapandemie, als deutlich mehr Menschen zu Hause gearbeitet hatten, auch mehr Menschen mit Alkohol- oder Drogensucht am Arbeitsplatz zu kämpfen haben. „Dass mehr Leute ein Problem haben, ist oft erst aufgefallen, als diese wieder zurück in die Unternehmen gekommen sind“, sagt Ute Reiser von der Caritas Ludwigsburg/Waiblingen/Enz, die auch in Backnang Gruppen und Beratung rund um das Thema Sucht anbietet. Dass jemand ein Suchtproblem hat, werde oft erst dann ersichtlich, wenn die Person plötzlich wieder auf den Sekt am Morgen verzichten müsse, weil sie zurück im Büro sei, erklärt Ute Reiser weiter. „Der Anstieg, den Betriebe nach der Coronapandemie gemeldet haben, war schon auffällig“, sagt sie. Hauptsächlich gehe es bei den Abhängigkeiten um Alkohol.
Als Sozialpädagogin und Therapeutin berät sie unter anderem Arbeitgeber bei Fragen rund um den Umgang mit Sucht. Dabei gehe es vor allem darum, wie man auf die betroffenen Mitarbeiter zugeht. „In den Schulungen geht es zum Beispiel darum, wie man erkennt, dass ein Kollege ein Suchtproblem hat, und wie man diesen am besten darauf ansprechen kann.“
Auch Lösungsansätze möchte die Suchtberatung hier mitgeben. Gerade für Menschen, die abhängig, aber noch in der Lage sind, ihren Job auszuüben, biete sich zum Beispiel die ambulante Therapie in Backnang an. „Das ist ein niederschwelliges Angebot und die Betroffenen müssen dann nicht für mehrere Wochen in die Klinik, sondern können das in den Alltag integrieren“, so Birgit Schmolke-El Titi, Leiterin der Caritas-Suchthilfe.
Auch bei den Kindern und Jugendlichen ändere sich der Konsum, erklärt Sozialarbeiterin Helena Hogg. „In den Schulen ist der Konsum gestiegen, vor allem von E-Zigaretten und Cannabis.“ Hier sei besonders ein Problem, dass immer neue und abgewandelte Formen von Cannabinoiden auf den Markt kommen. Weil die Gesetzgebung kaum mit den immer neuen synthetisch hergestellten Stoffen mithalten könne, meinen gerade viele Jugendliche, dass die Einnahme legal und unbedenklich ist, erklärt Larry King Bamidele, Leiter der Caritas-Suchthilfe. Dabei seien gerade diese Produkte, die oft sogar in Automaten verkauft werden, nicht immer ungefährlich, weil diese zum Teil schwerer dosierbar seien.
Finanzielle Situation ist angespannt
Die Aufgaben der Suchtberatung sind also weiter sehr aktuell und deren Angebote wichtig, trotzdem haben in Baden-Württemberg aktuell viele Beratungsstellen ein Problem. „Die finanzielle Situation ist angespannt“, so Reiser. Denn seit über 20 Jahren wurden die Landesgelder zur Unterstützung der Suchtberatung nicht mehr erhöht, die Ausgaben seien aber deutlich gestiegen. Nicht nur die Gehälter der Mitarbeiter betreffe das, sondern auch Ausgaben für Miete, Heizung, Energie und Investitionen in EDV und digitale Angebote. Zwar gebe es auch Gelder von Städten und Gemeinden, doch das reiche zum Teil nicht aus. „Die meisten unserer Angebote sind schließlich kostenlos“, meint auch Schmolke-El Titi.
Ein landesweites Aktionsbündnis möchte nun auf dieses Problem hinweisen, denn so einigen Beratungsstellen bleibe bei fehlender Finanzierung nichts anderes übrig, als bei den Personalkosten zu sparen. Dadurch würde sich dann auch das Angebot an Gruppen und Kursen reduzieren, so Schmolke-El Titi. In Backnang sei es zwar noch nicht so weit, dass man über Personalkürzungen nachdenkt, doch die Befürchtung stehe auch bei der örtlichen Suchtberatung im Raum. Dass es so lange keine Erhöhung der Mittel gegeben habe, liege auch daran, dass das Thema auf der politischen Ebene eben nicht sehr beliebt sei. „Die Lobby ist einfach nicht so stark wie in anderen Bereichen“, sagt Larry King Bamidele.
Dabei ist die Suchtberatung nicht nur eine Anlaufstelle für Betroffene, sondern auch für deren Angehörige, betont Sozialarbeiterin Helena Hogg. Auch diese können sich beraten lassen, wie sie mit der Suchterkrankung von Angehörigen am besten umgehen. Ziel sei es, Betroffene in die Suchthilfe zu bekommen. Dabei gehe es gar nicht immer darum, dass diese komplett von der Sucht loskommen. „Man darf sich auch melden, wenn man noch gar nicht aufhören möchte, sondern wenn man nur reduzieren oder die Sucht im Blick behalten möchte“, betont Hogg. Ziel der Beratungsstelle sei, dass die Betroffenen ihre Sucht überleben.
Aktionstag Im Zuge des heutigen Aktionstags möchten die Mitarbeiter der Backnanger Suchthilfe sich und ihre Unterstützungsangebote vorstellen. Dafür sind sie am heutigen Donnerstag von 13 bis 16 Uhr mit einem Infostand in der Backnanger Grabenstraße zu finden.
Kontakt Die Suchtberatung in Backnang befindet sich im Caritas-Zentrum in der Albertstraße 8. Telefonisch ist die Suchtberatung unter 07191/91156-10 erreichbar, Montag bis Freitag von 9 bis 12 Uhr sowie Dienstag und Donnerstag von 14 bis 16.30 Uhr. E-Mail-Anfragen gehen an psb-bk@caritas-ludwigsburg-waiblingen-enz.de.
Selbsthilfegruppen Im Raum Backnang werden verschiedenen Selbsthilfegruppen für Suchtkranke und deren Angehörige angeboten. Fast täglich gibt es unterschiedliche Gruppen, eine Übersicht findet man unter www.caritas-ludwigsburg-waiblingen-enz.de/beitraege/selbsthilfegruppen-fuer-suchtkranke.
Hilfe für Jugendliche Eine Beratungsstelle für junge Menschen bis 27 Jahre gibt es bei Horizont. Hier werden junge Menschen, die mit Drogen experimentieren, Drogen missbrauchen oder bereits abhängig sind, beraten und begleitet. Eine offene Sprechstunde ohne Terminvereinbarung gibt es donnerstags von 15 bis 17 Uhr unter 0173/5367957 oder hogg@drogenhilfe-horizont.de.
Ambulante Therapie Wer seine Suchterkrankung behandeln möchte, muss nicht zwingend in eine Klinik. Die Caritas bietet auch ambulante Therapien und Reha in Backnang an. Die Regelbehandlung beträgt zwölf Monate, sie eignet sich besonders, wenn Menschen berufstätig sind.
Kosten Fast alle Angebote der Suchtberatung sind kostenlos oder werden von der Krankenkasse übernommen. Lediglich spezielle Angebote wie der Rauchfreikurs von Ute Reiser müssen selbst übernommen werden.