Improvisation zum Stummfilm: „Musik aus dem Moment entstehen lassen“
Der Organist und Musiklehrer Tobias Wolber spielt am Samstagabend in der Murrhardter Stadtkirche auf der Orgel zum Stummfilm „Der General“. Die Musik zum Film wird improvisiert, sie entsteht also ganz spontan. Wie das funktioniert, erklärt er im Interview.
Einen Stummfilm mit Livemusik begleiten, das scheint in Zeiten von Streamingdiensten und neusten Kameratechniken fast ein wenig aus der Zeit gefallen, oder nicht?
Früher kamen bei Stummfilmen in den Kinos ja nur die sogenannten Stummfilmorgeln oder ein Klavier zum Einsatz. Dazu gibt es zwei Theorien. Die einen sagen, man wollte den lauten Projektor übertönen und das Geschwätz der Leute. Und die anderen sagen, man hat schnell gemerkt, dass die Musik das Bild verstärken kann, und dass man deswegen die Musik zum Stummfilm hinzugebracht hat. Als der Tonfilm kam, starb das aus. Tatsächlich nimmt das Improvisieren zum Stummfilm aber wieder zu, zumindest im Kreis der Organisten. Dass man das von der Stummfilmorgel oder vom Klavier auf die Kirchenorgel überträgt, das gibt es in den vergangnen Jahren vermehrt.
Warum begleiten Sie den Stummfilm am Samstag denn mit der Orgel und nicht mit dem Klavier?
Die Orgel ist auf jeden Fall interessanter. Schon aufgrund der verschiedenen Klangfarben und meistens auch aufgrund des Raums, denn die Kirchenräume klingen per se schon sehr schön. Und mit der Orgel kann man natürlich andere Sachen machen. Beim Klavier hat man ja nur die Tasten und kann – vereinfacht gesagt – eigentlich nur lauter oder leiser spielen. Bei der Orgel ist es fast so, als würde man ein ganzes Orchester anleiten. Nichts gegen das Klavier. Das Klavier ist toll, aber man hat dann einen etwas beschränkteren Klang.
Wie genau läuft das Improvisieren zum Film denn ab?
Wenn ich jetzt ein normales Konzert spiele, dann habe ich eine sehr gute Vorbereitung. Also ich weiß genau, welche Töne ich wann spiele, die ganzen Abläufe stehen fest. Aber bei der Improvisation versuche ich, die Musik spontan aus dem Moment heraus entstehen zu lassen.
Wie bereiten Sie sich denn auf so eine Improvisation zum Stummfilm vor?
Natürlich kenne ich den Film. Den muss ich vorher anschauen, um zu wissen, was wann passiert. Denn manchmal geht es im Film ja ganz schnell zu. Wenn dann die Musik weiterläuft und plötzlich nicht mehr passt, das würde ja jeder mitkriegen. Das heißt aber nicht, dass ich mir vorher schon genau überlege, was ich spiele, und es dann nur nachspiele. Vorher schreibe ich nur einen kleinen Ablauf, dabei notiere ich mir Stimmungen. Also welche Stimmung herrscht in der Szene, wo ist es besonders dramatisch, wo ist es eher lustig. So verliere ich in den 80 Minuten Film nicht den Überblick. Das ist nur die Vorbereitung zum Film, also nur die Hälfte.
Die andere Hälfte ist die Orgel?
Ja, denn jede Orgel ist anders. Selbst wenn zum Beispiel die Register, also die Klänge, gleich heißen, klingen sie oft sehr, sehr unterschiedlich. Denn bei der Orgel erzeuge ich Lautstärke und Klangunterschiede nur, indem ich verschiedene Registerkombinationen wähle oder mal während des Spielens welche dazu- oder wegnehme. Wie das dann später auf der Murrhardter Orgel klingt, das werde ich erst herausfinden, wenn ich vor Ort bin. Da muss man dann schauen, was passt tatsächlich klanglich zusammen, welche Kombinationen passen und wie kann man das während des Spielens möglichst problemlos verändern?
Das heißt, Sie probieren die Murrhardter Orgel vor dem Konzert auf jeden Fall aus?
Ja, wie der Klang sich ändert, das finde ich dann erst am Samstagnachmittag heraus, wenn ich die Orgel kennenlerne. Aber was dann am Abend passiert, das wird wieder spontan. Das heißt, das wird sich sicher wieder unterscheiden zur Probe am Nachmittag.
Schleichen sich da manchmal beim Improvisieren auch Fehler ein?
Inzwischen eigentlich nicht mehr. Da ist einfach zu viel Erfahrung mit im Spiel. Und außerdem ist es ja der Vorteil der Improvisation, dass niemand genau diese Musik kennt. Also weiß ja auch niemand, welche Idee ich vorher vielleicht hatte und dass es vielleicht manchmal anders klingt. Es ist höchstens so, dass man selber beim Spielen mal denkt: Das klang doch schon vor zehn Minuten so ähnlich. Aber das kriegt der Zuschauer so gar nicht mit, denn für ihn ist die Situation ja ganz neu.
Wie sind Sie denn dazu gekommen, die Musik zu Stummfilmen zu spielen?
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Was die wenigsten wissen: Neben den Jazzmusikern sind die Organisten eigentlich die Einzigen, die noch beruflich mit Improvisation zu tun haben. Ganz viele spielen ja ihre Gottesdienste nicht mit Noten, die sie geübt haben, sondern nur mit Improvisation, vor allem in der katholischen Kirche, damit man passgenau auf das reagieren kann, was im Altarraum abläuft. Außerdem war mein Improvisationslehrer im Studium Johannes Mayer, der mittlerweile Domorganist in Stuttgart ist. Der hat damals schon ganz viel zu Filmen improvisiert. Das hat viele sehr inspiriert, sich auch damit zu beschäftigen. Auch daher kam dann mein Interesse an dem Thema.
Was macht die Faszination dabei aus?
Zweierlei: Auf der einen Seite macht es mir persönlich einfach Spaß. Ich finde es toll, zu so einer Vorlage Musik zu machen. Und dann finde ich tatsächlich Filme und Filmmusik sehr interessant. Es ist toll, wie gut diese alten Filme produziert wurden. Die sind so intelligent gemacht und da ist so viel durchdacht – es lohnt sich wirklich, diese Filme anzuschauen. Und wenn man dann noch die Ebene der Livemusik hat, dann ist es für die Zuschauer oder Zuhörer ein doppeltes Vergnügen. So ist zumindest mein Eindruck.
Die Livemusik macht also tatsächlich einen anderen Eindruck als eingespielte Musik?
Würde ich schon sagen. Natürlich kann man diese Filme kaufen und dann gibt es manchmal irgendeine eingespielte Musik dazu. Aber ich finde, es ist ein Erlebnis, wenn man bei der Aufführung weiß, diese Musik hören jetzt nur wir. Das ist das Schöne an der Musik, die ist flüchtig. Sie entsteht in dem Moment und danach ist sie eben weg. Die improvisierte Musik wird nur für diesen Moment gemacht. Der Livemoment spielt da schon eine große Rolle.
Warum wurde denn der Film „Der General“ ausgewählt?
Buster Keaton und Chaplin waren ja durch die ganzen Slapstickeinlagen sehr berühmt. Ein Gedanke war, dass wir gerade jetzt, im Winter und mit der ganzen Situation, einen heiteren Film wählen, auch wenn „Der General“ mit dem amerikanischen Bürgerkrieg einen ernsten Hintergrund hat. Aber es kommen jede Menge sehr heitere Elemente vor. Da ist es schön, wenn die Leute dann lachen. Es gibt immer eine ganz, ganz schöne Stimmung.
Das Gespräch führte Kristin Doberer.
Zur Person Tobias Wolber hat in Tübingen Kirchenmusik studiert, die Orgel war da natürlich ein wichtiger Teil des Studiums. Jetzt ist der 30-Jährige hauptberuflich Musiklehrer an einem Crailsheimer Gymnasium.
Der Film Gezeigt wird der Stummfilm „Der General“ aus dem Jahr 1926. Buster Keaton spielt einen mutigen Lokomotivführer der Südstaaten, der trotz Ausmusterung zum Kriegshelden wird. Der Film spielt zur Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs und basiert auf dem historisch verbürgten Andrews-Überfall vom April 1862.
Die Vorstellung Der Film wird gezeigt am Samstag, 20. Januar, in der Stadtkirche Murrhardt. Es handelt sich um das 36. Konzert an der Mühleisen-Orgel, das im Rahmen des Internationalen Orgelzyklus stattfindet. Beginn ist um 18 Uhr. Der Eintritt ist frei, um Spenden wird am Ausgang gebeten.