In der Region verliert die Grundschulempfehlung an Gewicht

Seit 2012 entscheiden Eltern in Baden-Württemberg selbst, welche weiterführende Schule ihr Kind besuchen soll. Zwar gibt es nach wie vor eine Grundschulempfehlung, diese scheint aber an Gewicht zu verlieren. Auch das Beratungsverfahren wird seltener in Anspruch genommen.

Wohin geht die Reise nach der Grundschule? Bei der Orientierung hilft das besondere Beratungsverfahren. Symbolbild: Adobe Stock/vizualni

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Wohin geht die Reise nach der Grundschule? Bei der Orientierung hilft das besondere Beratungsverfahren. Symbolbild: Adobe Stock/vizualni

Von Kai Wieland

Rems-Murr. Der Wechsel an die weiterführende Schule gehört nicht nur zu den aufregendsten Phasen der Schulzeit, sondern gilt auch als Weichenstellung für das spätere Leben. Zwar sind die Barrieren zwischen den einzelnen Schularten in den vergangenen Jahren in Teilen abgebaut und die Durchlässigkeit des Bildungssystems damit erhöht worden, aber noch immer ist die Wahl der passenden Schulart nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Eltern eine Herausforderung. Im Jahr 2012 wurde in Baden-Württemberg die verbindliche Grundschulempfehlung abgeschafft. Seitdem steht es Eltern frei, auf welche weiterführende Schule sie ihr Kind schicken wollen. Die nun unverbindliche Empfehlung gibt es aber nach wie vor; bei der Anmeldung an der weiterführenden Schule muss sie auch vorgelegt werden.

Laut den Zahlen des Kultusministeriums Baden-Württemberg und des Statistischen Landesamts entscheiden sich viele Erziehungsberechtigte entgegen der Grundschulempfehlung. Im Jahr 2022 hatten 9,6 Prozent jener Schülerinnen und Schüler, die sich an einem Gymnasium anmeldeten, eine Realschulempfehlung und 1,1 Prozent eine Empfehlung für die Werkreal- oder Hauptschule. Andersherum hatten von den neuen Schülerinnen und Schülern an den Werkreal- und Hauptschulen 8,7 Prozent eine Empfehlung für die Realschule und immerhin 1,9 Prozent eine Gymnasialempfehlung. Die größten Abweichungen gab es wenig überraschend in der Mitte: Lediglich gut die Hälfte jener Schülerinnen und Schüler, welche sich im Jahr 2022 für die Realschule entschieden, hatte eine entsprechende Empfehlung erhalten. Je rund ein Viertel wählte die Realschule trotz einer Gymnasial- beziehungsweise einer Werkreal- oder Hauptschulempfehlung.

Orientierungsstufe tut Schülerinnen und Schülern gut

Diesen Trend kann Christine Engel, Rektorin an der Lautereck-Realschule in Sulzbach an der Murr, bestätigen: „Wir haben sowohl Kinder mit Hauptschulempfehlung, die zu uns kommen, als auch Kinder mit Gymnasialempfehlung und dann selbstverständlich eine große Zahl von Kindern, die eine Realschulempfehlung erhalten haben.“ Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt Timm Ruckaberle, Leiter der Max-Eyth-Realschule in Backnang: „Viele Eltern folgen der Einschätzung, es gibt aber natürlich auch Abweichungen. In diesem Fall erleben wir ein breites Spektrum an Gründen, von sehr differenzierten Überlegungen bis hin zu Vorstellungen, die Kinder vor große Herausforderungen stellen.“

Per se problematisch scheint sich diese Entwicklung indessen nicht zu gestalten, was möglicherweise auch mit der 2015 in §7 des Schulgesetzes eingeführten und 2017 angepassten sogenannten Binnendifferenzierung an der Realschule zusammenhängt: Nach den ersten beiden Jahren in der Orientierungsstufe (Klassen 5 und 6) erfolgt anhand der Zuordnung der Schülerinnen und Schüler zu Niveau G, welches einen Hauptschulabschluss anstrebt, oder Niveau M, welches den Realschulabschluss als Ziel hat, eine Anpassung im Unterrichtsaufbau und in der Leistungsbewertung. Da könne man dann auch besser abschätzen, wo die Reise hingehe, erklärt Christine Engel. „Es gibt beispielsweise Kinder mit Hauptschulempfehlung, denen diese beiden Jahre sehr guttun und die dann im M-Niveau richtig aufgehoben sind. Kinder mit Gymnasialempfehlung sind aber oftmals auch die, die später noch an die gymnasiale Oberstufe weitergehen.“ Kinder mit Hauptschulempfehlung, welche an der Realschule grundsätzlich ins Straucheln gerieten, seien indessen kein häufig zu beobachtendes Phänomen. Für obsolet hält Engel die Grundschulempfehlung deshalb aber nicht, als Orientierung erfülle sie allemal einen wichtigen Zweck. „Die Kollegen an den Grundschulen leisten eine sehr gute Arbeit“, so die Schulleiterin.

Beratungslehrkräfte unterstützen Eltern bei der Entscheidung

Dass ihr Gewicht bei der Entscheidungsfindung der Eltern aber offenbar abnimmt, deutet sich bei der Nachfrage nach dem sogenannten besonderen Beratungsverfahren an. Dieses wird von einer qualifizierten Beratungslehrkraft durchgeführt und dient dem Ziel, die Eltern in ihrer Entscheidung zu unterstützen. Martina Unsöld ist Referentin am Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) in Stuttgart, wo jährlich 100 neue Beratungslehrkräfte ausgebildet werden. Auf die Ausschreibung für diese Zusatzqualifikation können sich alle Lehrkräfte unabhängig von der Schulart bewerben, sofern sie bereits eine bestimmte Anzahl an Jahren im Schuldienst vorzuweisen haben. Ihrer Lehrtätigkeit bleiben sie anschließend dennoch erhalten. „Es ist lediglich eine zusätzliche Aufgabe oder Rolle“, erklärt Martina Unsöld. „Man hat weiterhin als Lehrkraft eigene Stunden. Das ist auch wichtig, um den Kontakt zu den Schülerinnen und Schülern nicht zu verlieren.“

Fälle pro Beratungslehrkraft nehmen jährlich ab

Der Ablauf ist folgendermaßen: Erhalten die Erziehungsberechtigten im vierten Schuljahr des Kindes die Grundschulempfehlung, so haben sie vier Tage Zeit, um sich für das besondere Beratungsverfahren zu entscheiden. Für diese Familien verlängert sich auch die Anmeldefrist für die weiterführenden Schulen, immerhin nimmt der Prozess mitunter zwei Wochen in Anspruch. „Manchmal ist es aber auch schon mit dem Erstgespräch erledigt“, erzählt Unsöld. „Das hängt immer ganz vom Elternanliegen ab.“ Oftmals reiche es schon aus, ihnen die Durchlässigkeit des Bildungssystems vor Augen zu führen, damit diese sich mit ihrer Entscheidung sicherer fühlten. Es kann aber auch ein zweites oder drittes Beratungsgespräch erfolgen, mitunter sogar ein Begabungstest. „Es handelt sich dabei um einen psychologisch-diagnostischen Test, es wird also nicht etwa Schulwissen abgefragt.“ Die Beratungslehrkraft ist dabei immer eine schulfremde Person, welche das jeweilige Kind im Idealfall nicht persönlich kennt. „Wir möchten, dass sie einen völlig neutralen Blick hat“, erklärt Unsöld.

Die vielen Varianten innerhalb des Bildungssystems können für Eltern, die vor dieser Entscheidung stehen, allerdings Fluch und Segen zugleich sein. „Was auffällt, ist ein großer Bedarf an Austausch und Erklärung angesichts eines sehr ausdifferenzierten Bildungsangebotes“, sagt Timm Ruckaberle. „Darüber hinaus fällt auf, dass sich Eltern ganz bewusst für bestimmte Schulen mit ihrem jeweiligen Profil entscheiden, unabhängig von einer Empfehlung der Grundschule. Für einen gelungenen Übergang braucht es einen realistischen Blick auf die Anforderungen der gewählten Schulart und die Fähigkeiten des jeweiligen Kindes. Kinder müssen die Chance haben, von Anfang an erfolgreich sein zu können.“

Schweigepflicht gilt für die Beratung

Wie viele Familien sich nach dem Beratungsverfahren für oder gegen die vorliegende Grundschulempfehlung entscheiden, ist nicht bekannt, denn für die Beratungslehrkräfte gilt eine Schweigepflicht. Außerdem müssen die Familien der Lehrkraft ihre letztliche Entscheidung nicht mitteilen. Erkennbar ist allerdings der Trend, dass das Beratungsverfahren trotz des komplexen Bildungsangebots immer seltener in Anspruch genommen wird, je länger der Wegfall der verbindlichen Grundschulempfehlung zurückliegt. „Im Schuljahr 2011/2012 hatte eine Beratungslehrkraft im Schnitt noch fünf Fälle pro Jahr. Mittlerweile sind es nur noch zwei“, sagt Unsöld. Dabei habe das Beratungsverfahren ganz ungeachtet des Verlaufs und des Ausgangs eines eventuellen Begabungstests keinerlei Verbindlichkeit. „Die Entscheidung bleibt immer bei den Eltern“, betont Martina Unsöld.

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Erstellt:
20. März 2024, 06:00 Uhr

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