Interview mit der Europabeauftragten des Rems-Murr-Kreises

Interview Johanna Bechtle ist die Europabeauftragte des Rems-Murr-Kreises und damit erste Ansprechpartnerin für Städte und Gemeinden in Fragen zur Europäischen Gemeinschaft. Sie appelliert an die Bürgerinnen und Bürger, am Sonntag zur Europawahl zu gehen.

Zum ersten Mal können junge Menschen ab 16 Jahren bei der Europawahl ihre Stimme abgeben. Foto: EU/Jennifer Jacquemart

© EU/Jennifer Jacquemart

Zum ersten Mal können junge Menschen ab 16 Jahren bei der Europawahl ihre Stimme abgeben. Foto: EU/Jennifer Jacquemart

Warum soll man am 9. Juni an der Europawahl teilnehmen?

Zum einen gibt es bei der Europawahl keine Sperrklausel im Sinne einer Fünfprozenthürde. Das heißt, jede Stimme zählt. Zum anderen ist es wichtig, mitzubestimmen. Wenn man will, dass sich Europa so entwickelt, wie man es sich vorstellt, und nicht zur Wahl geht, dann darf man sich hinterher auch nicht beschweren, wenn sich Europa in eine andere Richtung entwickelt. Der ehemalige Kommissionspräsident und EU-Pionier Jacques Delors, den ich sehr respektiere, hat einmal gesagt, dass der Friedensgedanke der fundamentale Daseinsgrund der Gemeinschaft war und ist. Schon allein deshalb sollte man wählen gehen.

Doch wie wirkt sich die EU-Politik konkret auf den Rems-Murr-Kreis und seine Bürger aus?

Da möchte ich etwas ausholen, weil ich nicht gleich mit dem Negativbeispiel der Pestizidverordnung beginnen möchte. Zum einen haben wir als Landkreis die Auswirkungen des EU-Primärrechts, die man oft nicht so im Blick hat. Das sind die Verträge, die die Mitgliedsstaaten geschlossen haben. Das sind vor allem die Grundfreiheiten, die hier direkt und flächendeckend auf die Bürger wirken. Zum anderen ist es das Sekundärrecht, das bei den Menschen viel mehr Beachtung findet. Das sind vor allem die Richtlinien und Verordnungen, die dann auch uns als Landkreis direkt betreffen.

Wie viele der von der EU getroffenen Entscheidungen wirken sich tatsächlich auf die Kommunen oder die Landkreise aus und an wen richtet sich eine mögliche Kritik an diesen Entscheidungen?

Es sind zwei Drittel der auf EU-Ebene getroffenen Entscheidungen, die uns auf kommunaler Ebene direkt oder indirekt betreffen. Die kommunale Betroffenheit geht dabei quer durch alle Zuständigkeiten. Wenn also jemand Kritik an bestimmten Richtlinien wie der schon erwähnten Umgebungslärmrichtlinie üben möchte, dann richtet sich diese Kritik an die EU. Bei den Richtlinien auf Bundesebene ist das anders. Hier gibt es stellenweise den Hinweis, dass Deutschland mit der Umsetzung über das eigentliche Ziel der EU-Richtlinie hinausschießt und zu viel auf Bundesebene regeln will. Anzumerken ist aber, dass sowohl die Verordnungen als auch die Richtlinien durch deutsche Politiker im Parlament und im Ministerrat mitverabschiedet werden.

Kommen wir zu den EU-Fördermitteln. Haben Sie Beispiele, wo EU-Gelder direkt in den Landkreis geflossen sind und wie das passiert ist?

Ganz konkret möchte ich hier den Neubau des Landratsamts in Waiblingen nennen. Das wurde von der EU mit 300000 Euro gefördert. Dann gibt es noch Förderprogramme im Landkreis, die ich auch direkt betreue. Das ist zum Beispiel im Rems-Murr-Kreis der Europäische Sozialfonds Plus (ESF Plus). Dieser Fonds ist das wichtigste Instrument der EU für Investitionen in Menschen, das heißt, es werden Mittel über die EU-Arbeits- und Sozialpolitik bereitgestellt, um die Bildungs- und Beschäftigungschancen der Menschen in der Europäischen Union zu verbessern.

Das Thema Sozialfonds klingt für mich jetzt etwas abstrakt. Können Sie sagen, was das konkret bedeutet und wie das in der Praxis umgesetzt wird?

In Baden-Württemberg wird der ESF Plus im Förderbereich Arbeit und Soziales sehr regional umgesetzt. Wir befinden uns derzeit in der aktuellen EU-Förderperiode, die von 2021 bis 2027 läuft. Hier stehen uns jährlich Mittel in Höhe von 375330 Euro zur Verfügung die wir im Rems-Murr-Kreis für Beschäftigungsprojekte einsetzen können. Dazu haben wir einen ESF-Arbeitskreis gegründet. Dieser besteht aus 13 stimmberechtigten und acht beratenden Mitgliedern aus unterschiedlichen Bereichen. Dazu gehören beispielsweise Vertreter der Agentur für Arbeit, der Industrie- und Handelskammer, der Handwerkskammer und der Freien Wohlfahrtspflege. Wir wählen dann Projekte aus, die sich um eine Förderung bewerben können. Die Anträge kommen in der Regel von Projektträgern wie der Diakonie Stetten, dem Kreisjugendring, der Caritas und anderen. Einzelpersonen können sich nicht bewerben.

Kommen wir noch einmal auf Ihr eingangs erwähntes Beispiel des Neubaus hier in Waiblingen zurück. Kann sich jede Kommune, die ein Bauvorhaben hat, um solche EU-Fördermittel bewerben?

In diesem Fall hat unser Amt für Beteiligungen und Immobilien den Antrag im Rahmen des Projekts Landratsamt der Zukunft gestellt. Grundsätzlich kann jede Kommune einen Antrag stellen, wenn es Programme gibt, die die entsprechenden Maßnahmen berücksichtigen. Man braucht aber auch die Ressourcen und das Personal, um solche Anträge zu stellen und das Projekt dann abzuwickeln. Um beim Beispiel des Neubaus des Landratsamtes zu bleiben: Hier haben wir die Förderung aufgrund der Holzhybridbauweise erhalten. Darunter versteht man die umweltfreundliche Kombination der Baustoffe Holz, Beton und Stahl. Die Förderlogik der Europäischen Union ist manchmal das Schwierigste, wenn man sich um Gelder bemüht. Hier sind uns die strukturschwachen Mitgliedsländer in Osteuropa teilweise voraus. Zum einen stellen diese Länder öfter Anträge, sind dadurch geübter und haben auch in den Strukturprogrammen als strukturschwächere EU-Länder größere Fördersummen, die sie beantragen können.

Was macht denn eine Gemeinde, die keinen EU-Experten in ihrer Verwaltung hat, aber ein Projekt durchführen möchte, das förderfähig sein könnte? An wen kann sie sich wenden?

Hier bin ich in der Tat die richtige Ansprechpartnerin. Eine intensive Fördermittelberatung findet durch das Landratsamt allerdings nicht statt. Aber ich weiß auf jeden Fall, wohin man sich wenden kann, und kenne auch die Programme, die es gibt. Mittlerweile gibt es aber auch sehr gute Plattformen, über die man sich gut informieren kann und für die man nicht unbedingt ein IT-Experte sein muss. Außerdem kann sich jede Kommune auch an die entsprechenden Ministerien wenden, die für die EU-Strukturförderungen meist „nationale Kontaktstellen“ eingerichtet haben, über welche Ansprechpartner zur Verfügung gestellt werden.

Kommen wir noch mal auf Ihren Wahlaufruf vom Anfang unseres Gesprächs zurück. Ist die Europawahl die einzige Möglichkeit für den einzelnen Bürger, sich aktiv an der EU zu beteiligen?

Nein, es gibt sehr viele Möglichkeiten, wie sich jeder Einzelne in Europa einbringen oder sich beteiligen kann. Es gibt zum Beispiel viele europäische Bürgerinitiativen oder europäische Vereine, denen man beitreten kann. Für Jugendliche gibt es die sogenannten Europadialoge. Aus meiner Sicht sind die Europaverbände am besten geeignet. Darüber informieren wir auch immer wieder, wie zuletzt auf Wochenmärkten mit einem Infostand, unter anderem auch in Backnang.

Welche Eindrücke über das Interesse der Bürgerinnen und Bürger konnten Sie auf den Wochenmärkten gewinnen und wie war die Stimmung zu den Themen Europa und Europäische Union?

Ich war selbst überrascht, wie interessiert die Menschen waren und dass wir miteinander ins Gespräch gekommen sind. Mein allgemeiner Eindruck war, dass es viel Unwissenheit gibt und die EU in den Köpfen der Menschen viel zu weit weg ist. Und das, obwohl es Dinge gibt, die erst durch die Gemeinschaft möglich geworden sind und mittlerweile als selbstverständlich angesehen werden, sei es die gemeinsame Währung oder das Reisen ohne Grenzkontrollen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft. Es gibt auch Dinge, die man nicht in Zahlen messen kann, die aber Errungenschaften der europäischen Gesetzgebung sind.

Welchen Appell richten Sie an all jene, die der Europäischen Union eher kritisch gegenüberstehen oder sich nicht sicher sind, ob die Gemeinschaft etwas bringt?

Hier wiederhole ich gerne, was ich eingangs gesagt habe. Der Friedensgedanke ist die grundlegende Daseinsberechtigung der EU. Darüber hinaus ist es die Förderung von Wohlstand und Einheit, die uns diese Gemeinschaft bietet. Ich kann nur empfehlen, sich zu informieren, sei es durch niederschwellige Videoangebote im Internet oder an entsprechenden Informationsständen. Man kann sich so der unterschiedlichen Positionen der Kandidaten oder Parteien bewusst werden. Gerade junge Menschen haben in diesem Jahr schon mit 16 Jahren erstmals die Möglichkeit, mit ihrer Stimme Einfluss darauf zu nehmen, in welche Richtung sich die Europäische Gemeinschaft in Zukunft entwickelt.

Das Gespräch führte Andreas Ziegele.

Foto: privat
Interview mit der Europabeauftragten des Rems-Murr-Kreises
Die Europabeauftragte im Kreis

Johanna Bechtle ist seit Oktober 2022 die Europabeauftragte des Rems-Murr-Kreises und bei der Wirtschaftsförderung Region Stuttgart angestellt. In dieser Funktion ist sie die erste Ansprechpartnerin für Kommunen und andere Institutionen in allen Fragen rund um die Europäische Union. Nach dem Abitur am Wirtschaftsgymnasium in Backnang studierte Johanna Bechtle Public Management an der Hochschule für öffentliche Verwaltung in Ludwigsburg und absolvierte den Masterstudiengang Europäisches Verwaltungsmanagement an den Verwaltungshochschulen in Ludwigsburg und Kehl. Bechtle kommt aus Kirchberg an der Murr.

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Erstellt:
7. Juni 2024, 06:00 Uhr

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