Klinikchef klagt: „Politik hat uns vergessen“
Der neue Geschäftsführer André Mertel setzt auf einen anderen Führungsstil als sein Vorgänger, kämpft aber mit denselben Problemen. Wegen der stark steigenden Kosten droht das Defizit der kreiseigenen Krankenhäuser in Winnenden und Schorndorf zu explodieren.
Von Kornelius Fritz
Winnenden. Es war ein Paukenschlag, als Marc Nickel, Geschäftsführer der Rems-Murr-Kliniken, Anfang Juli seinen Abschied verkündete. Vorausgegangen war ein Streit mit den Chefärzten, der selbst durch ein Mediationsverfahren nicht mehr beigelegt werden konnte. Seit Anfang August hat nun André Mertel das Kommando über die beiden Krankenhäuser in Winnenden und Schorndorf. Eine lange Einarbeitungszeit hat der neue Chef nicht gebraucht, denn der 45-Jährige gehört bereits seit 2015 zum Führungsteam der Rems-Murr-Kliniken, zunächst als kaufmännischer Leiter, ab 2018 auch als Klinikleiter in Schorndorf.
Die Herausforderungen, vor denen die kreiseigenen Kliniken stehen, sind dem gebürtigen Vogtländer also bekannt, und Mertel sieht auch keinen Anlass für einen grundlegenden Kurswechsel: „Ich denke, wir haben hier schon in der Vergangenheit einen guten Job gemacht, und den möchte ich gerne fortführen.“
Neuer Klinikchef will „Dialog auf Augenhöhe“
Allerdings will der neue Klinikchef anders kommunizieren als sein Vorgänger, der vor allem wegen seines offenbar recht rüden Führungsstils in der Kritik stand. „Ich will zuhören und einen Dialog auf Augenhöhe führen“, sagt André Mertel und hat dieser Ankündigung bereits Taten folgen lassen. Schon in den ersten Wochen nach der Amtsübernahme hat er sich mit vielen Chefärzten und Führungskräften „auf eine Tasse Espresso“ getroffen, um zu hören, wo der Schuh drückt. Für die gesamte Belegschaft soll es künftig einmal im Quartal eine Infoveranstaltung per Videostream geben, bei der die Klinikleitung auch Fragen beantwortet. Diese können die Beschäftigten über eine eigens dafür eingerichtete E-Mail-Adresse einreichen.
Dass man ein Klinikum mit 2800 Beschäftigten nicht immer in Harmonie führen kann, ist André Mertel klar, aber er will Diskussionen über die besten Lösungen zulassen. Und er will Verantwortung abgeben: „Wir haben auch in der zweiten und dritten Führungsebene fähige Leute, die zusammen mit mir gestalten wollen“, sagt Mertel. Auch die Chefärzte will der neue Geschäftsführer stärker einbinden, denn er ist überzeugt: „Wenn wir Lösungen im Konsens erarbeiten, steckt eine ganz andere Wucht dahinter.“
Auch medizinisches Material wird deutlich teurer
Es ist keine einfache Zeit, in der André Mertel die Leitung der Rems-Murr-Kliniken übernommen hat. Die Covid-Krise ist noch nicht ausgestanden, jetzt kommen noch Energiekrise und Inflation hinzu. Das größte Problem seien derzeit die massiven Kostensteigerungen in allen Bereichen, sagt der Klinikchef. Die Energiekosten haben sich fast verdreifacht, aber auch die Preise für Lebensmittel und medizinisches Equipment sind zuletzt massiv gestiegen.
Als Beispiel hat André Mertel zum Gespräch mit der Zeitung eine Kartusche für die Blutgasanalyse mitgebracht. Damit wird unter anderem die Sauerstoffsättigung im Blut gemessen. 700 Tests sind mit einer solchen Kartusche möglich. „Vor einem Jahr hat sie 60 Euro gekostet, heute sind es 150 Euro“, erklärt Mertel.
Einnahmen der Klinik sind nicht gestiegen
Das Problem: Die Einnahmen der Kliniken sind nicht gestiegen. Der sogenannte Basisfallwert, aus dem sich die Fallpauschalen berechnen, die die Krankenkassen an die Kliniken überweisen, wurde zuletzt im November 2021 festgelegt. Von Inflation und Energiekrise war damals noch keine Rede, weshalb die Kliniken jetzt auf den gestiegenen Kosten sitzen bleiben. „Das schlägt sich eins zu eins in unserem Ergebnis nieder“, macht der Geschäftsführer deutlich. Denn das Einsparpotenzial sei in einem Krankenhaus begrenzt. Zwar könne man bei der Beleuchtung durch den Einsatz von Bewegungsmeldern und das Umrüsten auf LED-Technik vielleicht noch die eine oder andere Kilowattstunde sparen, die Temperatur herunterzufahren sei aber nicht möglich: „Wir können von unseren Patienten nicht verlangen, dass sie eine Strickjacke anziehen“, sagt Mertel.
Deshalb hofft er inständig auf finanzielle Unterstützung durch die Politik, wie es sie in den vergangenen Jahren bereits wegen Corona gegeben hatte. „Ich lese zwar von diversen Entlastungspaketen, finde uns als Kliniken darin bis jetzt aber nicht wieder“, beklagt der neue Geschäftsführer. Bleibt es dabei, werde das jährliche Defizit der Kliniken, das mit großen Anstrengungen von 28 auf zuletzt 15 Millionen Euro reduziert worden war, wieder sprunghaft steigen – auf voraussichtlich mindestens 24 Millionen Euro. Geld, das dann mal wieder aus dem Kreishaushalt finanziert werden müsste, weshalb auch Landrat Richard Sigel bereits einen Hilferuf nach Berlin gesendet hat. Ob er erhört wird, muss sich noch zeigen.
Mertel will Patientenzahlen steigern
Aber es gibt auch positive Nachrichten von den Rems-Murr-Kliniken: Die Patientenzahlen nähern sich langsam wieder dem Vor-Corona-Niveau an. Noch im Juli hatte die Klinikleitung geklagt, dass viele Patienten, die keine akuten Notfälle sind, das Krankenhaus meiden, vermutlich aus Angst, sich dort mit dem Coronavirus anzustecken. Inzwischen sind diese Sorgen aber offenbar verflogen: „Vor den Sommerferien hatten wir in Winnenden eine Belegung von über 90 Prozent“, freut sich der Geschäftsführer. Aufs ganze Jahr gerechnet kalkuliert er trotzdem noch mit einem Minus von fünf bis sechs Prozent gegenüber 2019. Im kommenden Jahr soll dieses Niveau dann aber wieder erreicht werden – mindestens.
Mittelfristig will André Mertel die Patientenzahlen weiter steigern. „Meine Vision ist, dass die Rems-Murr-Kliniken die erste Adresse für die Bürgerinnen und Bürger im Landkreis werden“, sagt Mertel. Aktuell gehen nämlich nur etwa die Hälfte der Rems-Murr-Bewohner zur stationären Behandlung nach Winnenden oder Schorndorf. Mertel will diesen Anteil auf mindestens
60 Prozent erhöhen. Vielen sei wohl noch gar nicht klar, dass an den Rems-Murr-Kliniken mittlerweile „Spitzenmedizin auf Universitätsniveau“ geleistet werde. Als Beispiele nennt Mertel die Kardiologie, die zu den 20 besten Herzzentren in Deutschland zähle, und das Schorndorfer Wirbelsäulenzentrum, das nach europäischen Standards zertifiziert sei. „Das müssen wir nach außen noch besser kommunizieren.“
Große Investitionen sollen noch kommen
Um das Klinikum noch attraktiver zu machen, soll in den kommenden Jahren auch noch mal kräftig investiert werden: rund 120 Millionen für einen neuen Funktionsbau in Schorndorf, in dem unter anderem eine neue Notaufnahme und hochmoderne Operationssäle Platz finden. In Winnenden soll für rund 40 Millionen Euro ein Erweiterungsbau mit etwa 80 zusätzlichen Betten entstehen. Die Pläne für beide Projekte liegen laut Mertel bereits fertig in der Schublade. Sobald die Förderbescheide vom Land vorliegen, könne man mit dem Bau beginnen. „Der Spaten liegt schon in meinem Büro bereit“, sagt der Geschäftsführer augenzwinkernd.
Trotz aller Probleme und Herausforderungen will André Mertel seine neue Aufgabe mit Spaß angehen: „Sonst hätte ich mich gar nicht dazu bereit erklärt.“ Zunächst einmal ist es aber eine zeitlich befristete Mission, denn Mertel ist Angestellter der Oberender AG, die nur noch bis Ende 2023 mit dem Klinikmanagement beauftragt ist. Wie es danach weitergeht, ist noch nicht entschieden. Der neue Klinikchef sagt aber, er könne sich auch eine längerfristige Zusammenarbeit sehr gut vorstellen.
Karriere Der neue Klinikchef hat in Mainz Gesundheitsökonomie studiert, anschließend war er für private Klinikkonzerne wie die Schön-Klinik und die Sana-Kliniken AG tätig. 2014 wechselte er zur Oberender AG, die ihn im April 2015 als externen Manager an die Rems-Murr-Kliniken entsandte.
Privates André Mertel ist verheiratet und hat drei Töchter im Alter zwischen vier und elf Jahren. Seine Familie lebt in München. Als Ausgleich zum Beruf geht der 45-Jährige regelmäßig laufen und macht Krafttraining.