Kretschmann will Impfpflicht nicht ausschließen

dpa/lsw Stuttgart. Die Impfkampagne verliert an Fahrt, gleichzeitig verbreitet sich die Delta-Variante immer schneller. Das Land steht vor einem schwierigen Herbst. Wird der Staat seine Bürger zur Spritze verpflichten?

Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen), Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Foto: Bernd Weißbrod/dpa/Archivbild

Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen), Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Foto: Bernd Weißbrod/dpa/Archivbild

Ministerpräsident Winfried Kretschmann hält eine Impfpflicht im weiteren Kampf gegen die Corona-Krise für möglich. „Wir planen keine Impfpflicht. Für alle Zeiten kann ich eine Impfpflicht nicht ausschließen“, sagte der Grünen-Politiker der Deutschen Presse-Agentur in Stuttgart. „Es ist möglich, dass Varianten auftreten, die das erforderlich machen.“ Es könne gut sein, „dass wir irgendwann gewisse Bereiche und Tätigkeiten nur noch für Geimpfte zulassen“. Er nannte die Masern als Beispiel: „Da gibt's auch eine Impfpflicht für die Kitas, weil Masern höchst ansteckend sind.“

Aus der Opposition im Land kam umgehend scharfe Kritik. Baden-Württembergs FDP-Chef Michael Theurer erklärte am Sonntag: „Die von Ministerpräsident Kretschmann ins Spiel gebrachte Impfpflicht ist eine Debatte zur Unzeit. Anstatt mit staatlichem Zwang zu drohen, sind Anreize der bessere Weg.“

Auch der Koalitionspartner CDU widersprach. Die Politik habe immer gesagt, eine Impfpflicht werde es nicht geben. „Das halte ich im Grundsatz nach wie vor für richtig - und daran halten wir uns jetzt auch“, sagte Innenminister Thomas Strobl den „Stuttgarter Nachrichten“ und der „Stuttgarter Zeitung“ (Montag). Besser sei es, die Menschen von der Impfung zu überzeugen.

Auch der Kanzlerkandidat der Union, Armin Laschet, sprach sich gegen eine verpflichtende Impfung aus. „Ich halte nichts von Impfpflicht und halte auch nichts davon, auf Menschen indirekt Druck zu machen, dass sie sich impfen lassen sollen“, sagte der CDU-Chef am Sonntag im Sommerinterview des ZDF.

Kretschmann warnt seit längerem vor einer vierten Welle und blickt eher pessimistisch auf Herbst und Winter. Das Virus könnte aus seiner Sicht noch einmal genauso gefährlich zurückkommen wie im vergangenen Herbst, als die Infektionszahlen plötzlich drastisch anstiegen. „Wir fahren weiter auf Sicht. Die Virusmutationen haben uns schon zweimal einen Strich durch die Rechnung gemacht“, sagte er. „Treten Varianten auf, gegen die der Impfstoff nicht mehr so wirksam ist - sind wir sofort in einer anderen Situation.“ Es gebe keine Entwarnung.

Seit zweieinhalb Wochen steigt die Sieben-Tage-Inzidenz in Deutschland wieder kontinuierlich an. Nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) von Sonntagmorgen lag sie zuletzt bei 13,8. Demnach meldeten die Gesundheitsämter dem RKI binnen eines Tages 1387 Corona-Neuinfektionen - vor einer Woche hatte der Wert bei 1292 Ansteckungen gelegen. Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) sagte der „Bild am Sonntag“: „Die Zahl der Neuinfektionen steigt noch schneller als in den vorherigen Wellen. Das macht mir große Sorge.“

Kretschmann appellierte an die Menschen, sich impfen zu lassen. „Im Kern kann man sagen: Impfen ist Bürgerpflicht. Es geht um sehr viel. Das sollte jeder verantwortlich denkende Mensch einfach tun.“ Die Nebenwirkungen von Covid seien viel schlimmer als die der Impfstoffe überhaupt sein könnten. Auch wisse man wenig über die Langzeitfolgen einer Virusinfektion. Die Menschen müssten ihre Bedenken gegen die Impfung radikal zurückstellen.

Die Landesregierung im Südwesten hat schon weitere Lockerungen für vollständig geimpfte Menschen im Laufe des Septembers angekündigt. Da bis zum 15. September 2021 jede Bürgerin und jeder Bürger einen umfassenden Impfschutz haben könne, wolle man dann die Auflagen für vollständig Geimpfte weiter abschwächen.

Kretschmann hat kein Verständnis für Menschen, die in Risikogebieten Urlaub machen oder Zweitimpftermine wegen einer Urlaubsreise sausen lassen. „Solchen Leichtsinn können wir bitter bezahlen, indem man schwer erkrankt, indem man andere ansteckt, indem wir insgesamt, wenn das zu viele machen, die Sache nicht in Griff bekommen.“

Die Politik werde sich künftig im Kampf gegen die Pandemie trotzdem neben dem Inzidenzwert auch auf andere Kriterien stützen. „Die Lage hat sich durch das Impfen verändert“, sagte Kretschmann. Die besonders anfälligen Gruppen wie Alte und Vorerkrankte seien weitgehend geimpft, die Quote der Menschen, die ins Krankenhaus müssen, habe abgenommen.

„Es gibt auch die Möglichkeit, andere Kriterien mit reinzubringen - wie die Hospitalisierung, die Impfquote, den R-Faktor. Dann kommt man sozusagen zu einer Art Formel“, sagte der Regierungschef. Die Gesundheitsminister seien beauftragt, da einen Vorschlag zu entwickeln. „Der Nachteil ist: Das ist schwerer zu verstehen, denn bisher wusste jeder: Die Inzidenz ist der entscheidende Faktor. Das konnte jeder nachvollziehen. Nun wird es komplizierter.“

Die zweite Option aus Kretschmanns Sicht: „Man kann natürlich wie Jens Spahn darüber nachdenken, die Inzidenz als Wert für Maßnahmen grundsätzlich höher anzusetzen als bisher. Ohne weitere einordnende Kennzahlen zur Situation sehe ich das aber skeptisch.“ Der Grünen-Politiker gab auch zu bedenken, dass eine hohe Inzidenz immer schlecht sei. „Je schneller das Virus zirkuliert, desto häufiger wird es mutieren“, sagte er. „Niedrige Inzidenzen bedeuten langsamere Mutationen.“

© dpa-infocom, dpa:210725-99-516916/5

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Erstellt:
25. Juli 2021, 08:12 Uhr

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