Letzte Hoffnung: medizinisches Cannabis

Seit mehr als 20 Jahren leidet Britta Dess aus Weissach im Tal an Multipler Sklerose. Seitdem hat sie viele Medikamente ausprobiert, geholfen hat ihr allerdings nur eines: Cannabis. Durch die im Raum stehende Legalisierung erhofft sie sich weniger Stigmatisierung und mehr Angebote.

Die an Multipler Sklerose erkrankte Britta Dess aus Weissach im Tal inhaliert medizinisches Cannabis mit einem Verdampfer. Der Konsum zum Beispiel in Form eines Joints aus medizinischen Gründen ist ebenso illegal wie für die Allgemeinheit. Foto: Tobias Sellmaier

© Tobias Sellmaier

Die an Multipler Sklerose erkrankte Britta Dess aus Weissach im Tal inhaliert medizinisches Cannabis mit einem Verdampfer. Der Konsum zum Beispiel in Form eines Joints aus medizinischen Gründen ist ebenso illegal wie für die Allgemeinheit. Foto: Tobias Sellmaier

Von Kai Wieland

Rems-Murr. Kaum sichtbar steigt Dampf aus dem Apparat in Britta Dess’ Hand auf, den man auf den ersten Blick für ein Diktiergerät halten könnte. In Wirklichkeit handelt es sich dabei um einen Verdampfer, durch den die 44-Jährige aus Weissach im Tal Cannabis inhaliert. Es lindert ihre Schmerzen und Krämpfe und bringt ihr das ansonsten ausbleibende Hungergefühl zurück. „Es ist meine Rettung, das muss ich wirklich sagen“, betont sie.

Mit Anfang 20 wurde bei ihr Multiple Sklerose diagnostiziert. Seitdem hat sie fast jedes erdenkliche Medikament und Mittel ausprobiert, weitgehend ohne Erfolg. Erst der seit 2017 mögliche Einsatz von Cannabis als Medikament gab ihr Lebensqualität zurück. Der Weg dorthin war allerdings steinig, denn die Voraussetzungen sind streng und eng gefasst. „Man muss seitens der Krankenkassen austherapiert sein, alle möglichen Medikamente durchprobiert haben und nachweisen können, dass man sie nicht vertragen hat“, erklärt Britta Dess. „Ich musste sogar Morphium nehmen, bevor ich zum Cannabis gehen durfte.“

Als nicht weniger kompliziert erwies sich die Suche nach einem Arzt, der überhaupt Cannabis verschreibt. „Ich bin auf viele Vorbehalte gestoßen, die meisten Ärzte wollen damit nichts zu tun haben“, berichtet sie. „Einige Einrichtungen haben sich darauf spezialisiert, aber da ist es dann oft reine Geldmacherei und man muss schon bezahlen, um überhaupt angenommen zu werden.“ Ihre Rezepte erhält sie heute von einer Neurologin, deren Namen sie nicht verraten möchte aus Sorge, diese einem Ansturm auszusetzen. „Falls mir die mal wegbricht, weiß ich nicht, wo ich hin soll. Die Krankenkasse hilft einem da ja auch nicht.“

Hohe bürokratische Hürden

Einer der wenigen Ärzte, die im Raum Backnang Cannabis verschrieben, war Lutz-Dietrich Schweizer, bis er seine Hausarztpraxis nach einer Regressforderung der Kassenärztlichen Vereinigung 2019 aufgab (wir berichteten). Er ist heute am Zentrum für Psychiatrie in Winnenden tätig und führt weiterhin eine psychotherapeutische Praxis in Backnang. Cannabis darf er in dieser Funktion nicht verschreiben, er hält aber nach wie vor viel von dessen Wirksamkeit: „Die ist sehr eindeutig. Sonst hätte sich auch kein Kostenträger veranlasst gesehen, sich überhaupt damit zu befassen.“ Sparwillen und politischen Willen benennt er als zwei Faktoren, die dem breiteren Einsatz von Cannabis möglicherweise im Wege stünden. „Durch die vielen Vorschriften ist Cannabis schon in der Herstellung sehr teuer. Es kostet das 20- oder 30-Fache von dem, was es eigentlich kosten müsste.“

Johannes Birzele, Inhaber der Wieslauf-Apotheke in Rudersberg, bestätigt den enormen Aufwand, der entlang der gesamten Wertschöpfungskette betrieben wird. „Die Auflagen sind extrem, das wirkt sich schon sehr aus“, sagt er. Exemplarisch schildert er einen Besuch bei Demecan, einem Dresdener Start-up, das als bislang einziges deutsches Unternehmen Cannabis innerhalb der Bundesrepublik produziert: „Das Cannabis wird quasi im Bunker in einem Tresor angebaut, da kommt Sensortechnologie zum Einsatz und vieles mehr.“

Auch für Birzele selbst bringt der Umgang mit Cannabisarzneimitteln große bürokratische Herausforderungen mit sich. „Cannabis gilt eben als Betäubungsmittel, da ist der Aufwand, was etwa die Dokumentation betrifft, natürlich heftig.“ Die Rudersberger Apotheke nimmt im Hinblick auf medizinisches Cannabis eine Vorreiterrolle im Raum Backnang ein und führt auf ihrer Website sogar live die vorrätigen Sorten und Bestände auf, um Patienten den vergeblichen Gang zur Apotheke oder lange Wartezeiten zu ersparen.

Der Markt wird reifer

Gerade in den Anfangsjahren sei das notwendig gewesen, da der Markt unübersichtlich und die Verfügbarkeit unsicher gewesen sei. Auch die Zusammensetzung von ein und demselben Medikament habe mitunter variiert. „Mittlerweile sind die Verfügbarkeit und damit auch die Transparenz stark gestiegen“, sagt Birzele. „Wir wissen genau, was drin ist und wo es herkommt. Anfangs gab es da eine Art Wild-West-Manier, auch wenn man sich das im medizinischen Bereich kaum vorstellen kann.“

Die bürokratischen Hürden und die betreuungs- und beratungsintensive Arbeit mit medizinischem Cannabis sorgen bei Apothekern und Ärzten gleichermaßen für eine Konzentrierung auf wenige Anbieter, mit allen Problemen, die dieses Phänomen mit sich bringt. Der Markt für medizinisches Cannabis scheint ungeachtet dessen aber zu wachsen. Laut einem Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg kletterte die Zahl der Verordnungen von Cannabisprodukten von 29987 im Jahr 2019 auf 59982 im vergangenen Jahr.

Ob die im Raum stehende Legalisierung als Katalysator wirken wird, ist schwierig abzuschätzen, dafür sind die Rahmenbedingungen noch zu unklar. Sollte sie allerdings einen Bürokratieabbau für Cannabisarzneimittel bewirken und den Genehmigungsvorbehalt durch die Krankenkassen abschaffen, würde dies den medizinischen Bereich enorm tangieren, vermutet Lutz-Dietrich Schweizer. „Der Umsatz würde sich dann meiner Einschätzung nach verzehnfachen.“ Dabei sei es nicht einmal nötig, den Anwendungsrahmen zu erweitern. „Wenn man das, was aktuell erlaubt ist, ausschöpfen würde, wäre schon viel gewonnen.“

Jens Steinat, Vorsitzender der Ärzteschaft Backnang, ist von der Legalisierung dennoch nicht überzeugt, obwohl er die Verwendung von Cannabis in medizinischen Bereichen in Einzelfällen als sinnvoll erachtet: „Da gibt es berechtigte Einsatzgebiete. Leider ist die Verordnung kompliziert und die Regressgefahr hoch, hier würde es dementsprechende vereinfachte Regeln und Abläufe brauchen.“ Durch die Legalisierung befürchtet er jedoch mehr Cannabismissbrauch und damit eine Zunahme von psychischen Erkrankungen und Psychosen.

Auch Lutz-Dietrich Schweizer und Britta Dess warnen davor, allzu leichtfertig Zugang zu starkem Cannabis zu gewähren. Von der Legalisierung erhoffen sie sich vielmehr ein Ende der Stigmatisierung und einen entspannteren Umgang mit der Thematik. „Man sollte nicht immer an Vollrausch denken, wenn das Wort Cannabis fällt, das macht man beim Alkohol ja auch nicht“, findet Dess. Vielleicht zeigten sich dann insbesondere jüngere Ärzte zukünftig offener für den Einsatz von Cannabis.

Medizinisches Cannabis: Rechtliche Lage

Cannabisarzneimittel Als solche gelten Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität sowie andere Arzneimittel, wenn sie bestimmte Wirkstoffe enthalten. Sie fallen unter das Betäubungsmittelgesetz und erfordern daher die Ausstellung eines entsprechenden Rezepts.

Kostenübernahme Die Krankenkassen übernehmen unter eng gefassten Voraussetzungen, insbesondere bei Beschwerden durch sehr schwere Erkrankungen wie Multiple Sklerose, Krebs oder AIDS sowie bei chronischen Schmerzerkrankungen die Kosten für eine bestimmte Monatsdosis Cannabis. In der Regel erfolgt die Kostenübernahme allerdings nur dann, wenn keine anerkannte medizinische Behandlung zur Verfügung steht. Auch Privatrezepte sind unter Wahrung der gesetzlichen Gegebenheiten möglich. Die zumeist sehr hohen Kosten müssen dann aber vom Patienten selbst getragen werden.

Verfahren Der Arzt entscheidet, ob die Behandlung eines Patienten mit Cannabisarzneimitteln sinnvoll ist. Die Erstattung muss allerdings vor Behandlungsbeginn von der Krankenkasse genehmigt werden, wofür diese den medizinischen Dienst der Krankenversicherung mit der Prüfung der Voraussetzungen zur Behandlung beauftragt. Die Einschätzung des Arztes ist also nicht allein ausschlaggebend. Für eine Anpassung der Behandlung ist keine neue Genehmigung nötig.

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Erstellt:
13. Juni 2023, 06:00 Uhr

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