Keir Starmer in Brüssel
London bleibt seinem Brexit-Sound treu
Der erste Besuch von Großbritanniens Premier Keir Starmer in Brüssel sollte eine Annäherung an die EU bringen. Doch der erklärt vor allem, wo sich London politisch nicht bewegen wird.
Von Knut Krohn
Großbritannien ist ein komplizierter Partner für Brüssel. Diese Erkenntnis galt bereits vor dem Brexit und hat sich nach dem Austritt des Landes aus der EU verfestigt. Für Ärger in Brüssel sorgte, dass London zuletzt immer wieder versuchte, die in mühsamer Kleinstarbeit festgezurrten Brexit-Regeln im Bereich des Binnenmarktes zu den eigenen Gunsten zu verwässern. Eher verwirrend war zudem, dass Brüssel angesichts des politischen Chaos in Großbritannien mit ständig wechselnden Gesprächspartnern zu tun hatte. Aus diesem Grund trauern im Brüsseler Beamtenapparat den widerspenstigen Briten nur wenige hinterher.
Der Premier definiert rote Brexit-Linien
Die Skeptiker sehen sich nun bestätigt. Keir Starmer, der neue Mann in Downing Street 10, war am Mittwoch zu Gast in Brüssel. Doch der Premier schlug bei seinem ersten Besuch den altbekannten, britischen Sound an: er definierte mehrere „rote Linien“ für die Wiederannäherung. „Es wird keine Rückkehr zur Personenfreizügigkeit geben, keine Rückkehr zur Zollunion, keine Rückkehr zum gemeinsamen Binnenmarkt.“ Damit versetzte Starmer den Plänen der EU-Kommission einen Dämpfer, zumindest die Reisefreiheit für Menschen zwischen 18 und 30 Jahren zumindest für ein Auslandsjahr zu ermöglichen. Seit dem Brexit brauchen EU-Bürger für den Aufenthalt in Großbritannien wieder ein Visum, ebenso brauchen junge Briten ein Visum für den Aufenthalt in der Union. Dem EU-Vorschlag zufolge sollten etwa Studenten und Studentinnen für vier Jahre im Zielland bleiben dürfen, ohne dass eine Genehmigung etwa an einen festen Arbeitsvertrag gekoppelt ist.
Erinnerung an britische Rosinenpickerei
Vieles erinnerte nach dem Besuch des Premiers an die Rosinenpickerei, die den Briten bereits vorgeworfen wurde, als sie noch Teil der Europäischen Union waren. Dabei hatten die Verantwortlichen in Brüssel gehofft, dass mit der Wahl von Keir Starmer die Chance gekommen sein könnte, das Verhältnis zu entkrampfen und auf neue Beine zu stellen. Der neue Regierungschef schürte solche Erwartungen, denn er sprach vor seinem Besuch von einem „Neustart“ der Beziehungen. Er wolle versuchen, dass der „Brexit für das britische Volk funktioniert“, schrieb er auf dem Kurznachrichtendienst „X“ (ehemals Twitter).
In diesem Satz schwingt das Eingeständnis mit, dass der Austritt des Landes aus der EU nicht die versprochene Erfolgsgeschichte ist. Immer wieder werden Umfrage veröffentlich, in denen sich die Mehrheit der Briten wünscht, wieder in die EU aufgenommen zu werden. Als Erfolg sieht den Brexit inzwischen nur noch jeder Zehnte Brite, wie vor einigen Monaten eine Umfrage im Auftrag der Londoner Denkfabrik „UK in a Changing Europe“ ergab.
Schwierige wirtschaftliche Situation in London
Zum Problem wird zunehmen die wirtschaftliche Situation im Königreich. Eine Mehrheit der Menschen glaubt inzwischen, dass der EU-Austritt der britischen Wirtschaft geschadet hat. Bisher ist es der Regierung in London nicht gelungen, Abkommen zu schließen, die die Verluste im Handel mit der EU wettmachen. Der Plan der Brexit-Befürworter war, die Handelsverträge der EU durch bilaterale Abkommen mit besseren Konditionen zu ersetzen. Das aber ist gründlich gescheitert, vorzuweisen sind lediglich Abkommen mit Australien und Neuseeland. Experten zögern, die wirtschaftlichen Einbußen Londons durch den Brexit exakt zu beziffern. Berechnungen sprechen aber von einem Verlust zwischen drei und fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes.
Auch ein zentrales Brexit-Versprechen ist gescheitert: die Verbesserung der Gesundheitssystems. Im staatlichen Gesundheitsdienst NHS fehlt es an Geld und Personal, selbst Krebspatienten müssen lange auf eine Behandlung warten. Für Ärger sorgt auch, dass die sozial schwächeren Schichten das Gefühl haben, dass sie die negativen Folgen des Brexit alleine tragen müssen. Die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert sich seit Jahren. In nur wenigen anderen europäischen Ländern und G7-Industriestaaten ist die Ungleichheit laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) so groß wie im Vereinigten Königreich.
Das große Problem der illegalen Migration
Auch das Versprechen, nach dem Brexit würden weniger Menschen nach Großbritannien einwandern und dadurch automatisch besser bezahlte Jobs für Briten entstehen, ging nicht auf. Auch die illegale Migration nahm zu. Aus diesem Grund versucht London nun Abkommen mit der EU zu erreichen, um zumindest den Zustrom über den Ärmelkanal einzudämmen. In den ersten acht Monaten dieses Jahres sind bereits über 40.000 Menschen ins Königreich gelangt.
Im Bereich der Zuwanderungspolitik sieht der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Europaparlament, David McAllister, gute Chancen für eine Zusammenarbeit. Die irreguläre Migration nach Europa müsse „dringend gestoppt werden“, forderte der CDU-Politiker. „Der Brexit hat die Koordinierung der Zuwanderungspolitik auf beiden Seiten jedoch geschwächt und irreguläre Migrationsströme verstärkt“, erklärte der frühere niedersächsische Ministerpräsident. „Der Brexit ist und bleibt ein historischer Fehler mit massiven Konsequenzen, insbesondere für die Menschen und die Wirtschaft im Vereinigten Königreich“, betonte McAllister.
London und Brüssel wollen sich weiter treffen
In Großbritannien selbst ist die Lust, weiter öffentlich über den Brexit zu debattieren allerdings gering. In Umfragen gibt regelmäßig eine Mehrheit der Briten an, von den negativen Folgen des Austritts einfach nichts mehr hören zu wollen. Daran kann sich die Politik natürlich nicht orientieren. Keir Starmer vereinbarte in Brüssel mit EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen ein weiteres Treffen für diesen Herbst. Zudem soll es in Zukunft regelmäßige Gipfeltreffen zwischen der EU und Großbritannien geben. Inhaltlich wollen sie demnach Themen wie wirtschaftliche Schwierigkeiten, irreguläre Migration, Klimawandel und Energiepreise gemeinsam angehen.