Mindestens drei Jahre Gefängnis für Backnanger Kinderschänder

Angeschuldigter verzichtet vor dem Landgericht auf persönliche Zeugenaussage des Opfers. Die Rolle des Jugendamts wirft Fragen auf.

Symbolfoto: Alexander Becher

© Alexander Becher

Symbolfoto: Alexander Becher

Von Heike Rommel

Stuttgart/Backnang. Drei bis dreieinhalb Jahre Gefängnis stehen in einem Prozess wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes gegen einen 52-jährigen Backnanger vor dem Stuttgarter Landgericht im Raum. Der Mann hat dem Opfer in der Hoffnung, mit einer nicht ganz so harten Strafe davonzukommen, eine persönliche Vernehmung im Zeugenstand erspart, denn die Beweislage scheint erdrückend. Das Prekäre an der Sache: Das Jugendamt Rems-Murr hat der Kripo Waiblingen auch nach mehrmaliger Aufforderung keine Akte herausgerückt.

Das Opfer leidet noch heute unterden Geschehnissen vor einigen Jahren

Das Jugendamt war nach Informationen der Kriminalpolizei, welche der Jugendkammer des Landgerichts unter Vorsitz von Richter Hans-Peter Schöttler kalendarische Originaldokumente aus dem Tatzeitraum 2015 bis 2017 vorlegte, schon länger in die Sache involviert. Und zwar nachdem sich die damalige Ehefrau des Angeklagten darüber gewundert hatte, warum dieser mit einer Freundin ihrer Töchter in der Backnanger Wohnung übernachtet, während sie mit den Töchtern in einer Mutter-Kind-Kur ist. Der Waiblinger Rechtsanwalt Jens Rabe bekam das Opfer etliche Zeit später von der Anlaufstelle sexualisierte Gewalt vermittelt. Er erstatte für die heute 19-Jährige, die in dem Prozess als Nebenklägerin zugelassen ist, Strafanzeige. Denn seine Mandantin, so führte der Anwalt aus, leide heute noch an einer posttraumatischen Belastungsstörung, Depressionen, Flashbacks, Albträumen und einem Waschzwang. Auch Selbstverletzungen und Suizidversuche seien vorgekommen.

Übergriffe steigern sich ständig in der Intensität

Das Kind war im Alter zwischen zwölf und 14 Jahren in der Backnanger Familienwohnung zu Gast. Der Anklage zufolge baute sich der sexuelle Missbrauch stufenweise auf, weil das Mädchen „Angst im Dunkeln“ hatte. Der vermeintliche Beschützer bot an, es könne auch zu ihm ins Schlafzimmer kommen. Von Berührungen, so Staatsanwalt Sven Reiss, hätten sich die Übergriffe bei jeder Übernachtung in insgesamt mindestens 39 Fällen fortgesetzt und in der Intensität gesteigert.

Der angeschuldigte, mittlerweile „wegen dieses Vorfalls geschiedene“ und seit 10. August dieses Jahres im Untersuchungsgefängnis Stammheim sitzende Familienvater ergoss sich in Tränen, als er die Anklage hörte. Seinem Verteidiger hatte er noch kurz vor der Verhandlung einen 14-seitigen Brief geschrieben.

War das Kind, welches zur Tatzeit aufgrund eigener familiärer Schwierigkeiten in einer betreuten Wohngruppe in Backnang lebte, ein leichtes Opfer? Das steht vor dem Landgericht nicht zur Debatte. Erkannt und zu Protokoll nehmen lassen haben die Richter der Jugendkammer bislang, dass sich der Beschuldigte das Vertrauen des einst mit seinen Töchtern befreundeten Mädchens erschlichen und versucht hat, eine emotionale Bindung zu diesem aufzubauen.

In Kalendern sind die Übernachtungen beim Angeklagten eingetragen

Zu seiner Person gab der Angeschuldigte unter Weinen und Schluchzen an, er habe seinen erlernten Handwerksberuf wegen eines Burn-out-Syndroms nicht mehr ausüben können. In den Jahren 2012 und 2013 habe er eine Ausbildung zum Arbeitserzieher gemacht und dann als solcher gearbeitet. Diese Arbeit habe er jedoch dann „auch wieder lassen müssen“, weil er es „ethisch nicht vertreten“ habe können, Behinderte zu einer Berufsausbildung zu zwingen. Sein Antrag auf Erwerbsminderungsrente wegen Depressionen sei nicht durchgegangen, weshalb er sich ab dem Jahr 2019 als Hausmeister um 30 Häuser mit Reparaturen aller Art gekümmert habe. Mit monatlichen 1670 Euro Einkommen abzüglich Unterhalt seien ihm jedoch gerade noch 200 Euro zum Leben übrig geblieben, sodass er vor der Untersuchungshaft in einem Gartenhaus habe leben müssen. Auf die Frage von Richter Schöttler, wie es ihm in der Untersuchungshaft geht, antwortete der gebürtige Winnender: „Ich muss halt aufpassen, dass ich keine geballert kriege, weil ich ein Weichei bin. Wegen des blöden Geschwätzes von Mithäftlingen muss ich mich jeden Abend psychisch runterfahren.“

Opfer hat alle Seiten aus dem Tagebuch herausgerissen

Die Taten hat der Angeklagte vor Gericht eingeräumt. Eine Kripobeamtin legte den Richtern sämtliche Kalender des Opfers auf den Tisch, auf denen jede Übernachtung beim Angeklagten in Worten oder Symbolen dokumentiert war. Das Tagebuch des Opfers ist nicht mehr da, denn dieses hat nach Angaben der Kripo alle Seiten, die den Angeklagten betreffen, herausgerissen. Es läge aber ein Tagebuch der Ex-Frau des Backnangers vor, die außerhalb der Mutter-Kind-Kur mit den eigenen Töchtern ins Kinderzimmer geschickt worden sei, während sich ihr damaliger Ehemann mit der Freundin der Töchter im Wohnzimmer befand. Die Ex-Frau, so die Zeugin von der Waiblinger Kripo weiter, habe die Konzentration ihres damaligen Mannes auf die Freundin ihrer Töchter schon fast als Konkurrenz für sie als Ehefrau empfunden und das Jugendamt verständigt. Doch dort hätte es geheißen, handfeste Beweise habe man keine. „Das Jugendamt hat sich komplett verweigert und nicht kooperativ gezeigt?“ „Ja“, lautete die Antwort der Kripobeamtin auf diese Frage von Richter Hans-Peter Schöttler. Der Prozess wird fortgesetzt.

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Erstellt:
29. Oktober 2022, 11:30 Uhr

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