Mitbestimmen, wie alle anderen auch
Nach Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: Marianne Winkler aus Murrhardt kann nun als Behinderte an den Kommunal- und Europawahlen teilnehmen
Behinderte Menschen, die in allen Bereichen auf einen rechtlichen Betreuer angewiesen sind, waren bisher von Wahlen ausgeschlossen. Dies hat sich mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geändert. In Baden-Württemberg sind es rund 5900 Betroffene, die nun an den Kommunal- und Europawahlen teilnehmen können. Eine von ihnen ist Marianne Winkler aus Murrhardt.
Von Christine Schick
MURRHARDT. Somit gehört Marianne Winkler salopp gesagt zu dieser besonderen Gruppe von Neuwählern. Die 65-Jährige lebt seit 18 Jahren in einer Wohnstätte der Paulinenpflege Winnenden in der Walterichstadt. Vor rund 20 Jahren traf sie ein harter Schicksalsschlag, der ihr Leben radikal veränderte – eine Gehirnblutung. Die Folgen sind Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis. „Bevor das passiert ist, konnte ich ja noch wählen und selbst entscheiden“, sagt sie. Jetzt, da dies wieder möglich ist, freut sie sich. „Ich möchte wählen! Einfach aus einem inneren Gefühl heraus“, erklärt sie. Letztlich bedeute es auch, dazuzugehören, „man fühlt sich nicht so auf dem Abstellgleis“. Ihr Mann Harald Winkler, der gleichzeitig ihr gesetzlicher Betreuer ist, nickt. „Ich finde das auch wichtig. Dass Maya wählen gehen kann, bedeutet, sie ist Teil der Gesellschaft und kann mitbestimmen, so wie alle anderen auch.“ Übers Fernsehen hat er die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts mitverfolgt. Insofern wusste er bereits Bescheid, als ihn die Paulinenpflege Winnenden als rechtlichen Betreuer informiert hat.
Als ein Teil der Wahlbenachrichtigungen – manche gingen auch an die Betreuer – in die Murrhardter Wohnstätte kam, hieß es auch für Edith Schüler, aktiv zu werden. „Wir haben uns in den Wohngruppen erkundigt, wer wählen möchte und das bei der Bewohnerstunde besprochen“, erzählt die Leiterin des Hauses mit rund 30 Plätzen.
Eine Reihe der Bewohner arbeitet in der nicht weit entfernten Werkstatt der Paulinenpflege in Murrhardts Weststadt. Auch dort galt es für Annette zu Jeddeloh, die die Mitarbeiter vor Ort begleitet, zu reagieren. Denn weitere Beschäftigte wohnen außerhalb oder in den eigenen vier Wänden, und noch vor einigen Wochen war es völlig offen, ob die Teilnahme auch für die Europawahlen möglich sein würde. „Als wir wussten, dass die Änderungen auch dort greifen, haben wir die Betreuer oder Angehörige der Beschäftigten noch schnell angeschrieben, dass sie Bescheid wissen, und auch Informationsmaterialien zu den Wahlen bestellt“, erzählt sie. Zudem hat sie eine Veranstaltung für die Mitarbeiter angeboten, bei der es neben diesen Broschüren noch mal kompakte Infos zu den Wahlen gab. Die meisten der rund 100 Beschäftigen hätten teilgenommen, und seien interessiert bei der Sache gewesen.
„Wir haben das auch schon mal zur Bundestagswahl gemacht.“ Doch zu diesem Zeitpunkt durfte der Großteil der Belegschaft noch nicht wählen, was sich nun geändert hat. Annette zu Jeddeloh schätzt, dass es Pi mal Daumen ungefähr 70 Prozent der Beschäftigten sind, die eine Vollbetreuung und nun die Möglichkeit haben, an den Kommunal- und Europawahlen teilzunehmen. Sie findet es richtig, dass Menschen auch mit geistiger Behinderung wählen können. Auch in der Wohnstätte hat das Thema Wahl seinen Platz. Edith Schüler hat beispielsweise die Kandidatenlisten zur Gemeinderatswahl bei einer der Bewohnerstunden gezeigt und weiß, dass neben Marianne Winkler, wenn auch nicht alle, doch Einzelne zur Wahl gehen möchten.
Wie hat die 65-Jährige sich informiert? Marianne Winkler verfolgt die Nachrichten und liest Zeitung. „Sie hat mir heute Morgen erzählt, dass Niki Lauda gestorben ist, was ich noch gar nicht mitbekommen hatte“, sagt Edith Schüler. Mit Blick auf die Politik gibt die Neuwählerin zu Bedenken: „Jetzt werben die Parteien natürlich auch für sich. Die Frage ist, wie es dann mit der Umsetzung der Dinge funktioniert, die sie versprochen haben.“
Weil ihr Mann am Wahlsonntag nicht in Murrhardt sein kann, hat er für sie beide Briefwahl beantragt. Der anspruchsvollen Aufgabe, seine Frau gut zu begleiten, ohne sie zu beeinflussen, ist er sich wohl bewusst. Es bedeute, schon grob über die Inhalte und Stoßrichtungen der Parteien zu sprechen. „Trotzdem ist es schwer, zu 100 Prozent neutral zu sein“, sagt er. Ein Beispiel sei, dass aller Wahrscheinlichkeit nach in den Gesprächen die sehr kleinen, speziellen Parteien eher keine Rolle spielen.
„Wichtig ist, dass sie selbst und ganz frei entscheiden kann“
„Wichtig ist, dass sie selbst und ganz frei entscheiden kann.“ Dabei möchte Harald Winkler offen sein und sich auch ein Stück weit überraschen lassen, wenn sie sich zur Briefwahl zusammensetzen. Dazu nehmen sich die beiden im Anschluss Zeit. „Ganz unkompliziert ist das ja nicht“, sagt der Ehemann. Annette zu Jeddeloh zeigt ihnen schon mal die beiden Broschüren der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg zur Kommunal- und Europawahl, in denen zentrale Punkte in einfacher Sprache erläutert sind und die sie nachher mitbekommen. Insofern muss Marianne Winkler am Nachmittag nicht mehr zur Arbeit – sie mangelt und bügelt in der Backnanger Werkstatt der Paulinenpflege. Nach dem Wahlsonntag beziehungsweise den Auszählungen hat sie sich vorgenommen, auch in der Wohngruppe die Ergebnisse der Wahlen zu verfolgen.