Großaspach: Mutmachbuch über das Leben mit Tourette
Das Tourettesyndrom bringt Betroffene wie Angehörige oft an ihre Grenzen. Die Großaspacherin Sabine Eisenmann hat zusammen mit ihrer Schwester Sandra Leitner-Wölfer ein Buch darüber geschrieben, wie der Alltag mit ihrem an Tourette erkrankten Sohn Florian früher aussah.

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Gut zehn Jahre lang haben Sabine Eisenmann (links) und Sandra Leitner-Wölfer an ihrem Buch gearbeitet. Foto: Alexander Becher
Von Melanie Maier
Aspach. Die Krankheit kam nicht auf einen Schlag ins Leben der Familie Eisenmann. Das Tourettesyndrom (siehe Infotext) zog langsam in ihr Haus in Großaspach ein, Tic für Tic. Mit neun Jahren traten bei Sohn Florian die ersten Symptome auf. „Seine Persönlichkeit hat sich verändert“, erinnert sich seine Mutter Sabine Eisenmann. „Seine Augen haben gezuckt, sein Körper hat immer wieder ein bisschen geruckelt. Das war aber auch nicht ständig so. Manchmal war eine halbe Woche gar nichts.“ Dabei sollte es nicht bleiben. Die Tics wurden häufiger und sie entwickelten sich weiter. Florian fing an, auf den Boden zu spucken und alles um ihn herum abzulecken. Ein paar Monate später kamen Kraftausdrücke dazu sowie der hochgereckte Mittelfinger, den er nicht selten auch seiner Mutter entgegenstreckte.
Zusammen mit ihrer Schwester Sandra Leitner-Wölfer hat die 62-Jährige nun ein Buch darüber geschrieben, wie ihr Alltag mit ihrem am Tourettesyndrom leidenden Sohn früher aussah. Es soll anderen Eltern von Kindern mit Tourette Mut machen und ihnen zeigen, dass sie nicht allein sind mit ihren Sorgen, Ängsten und Schamgefühlen. In zehn Kapiteln, die jeweils für sich stehen, gibt Sabine Eisenmann einen sehr intimen Einblick in ihr Familienleben.
Sie schildert Details aus dem eigenen Alltag
Sie beschreibt nicht nur, wie sich die Krankheit etwa auf die Schullaufbahn und den beruflichen Werdegang von Florian ausgewirkt hat – der übrigens nach Realschulabschluss, Ausbildung, Fachhochschulreife und Studium bei der Schweizer Börse in Zürich arbeitet und mit seiner Krankheit gut zurechtkommt. Sie schildert auch detailreich, wie sie ihren Mann Volker kennenlernte und wie sich der herausfordernde Alltag mit krankem Kind auf ihre Ehe ausgewirkt hat.
„F*cken F*tze Feuer Frei“ heißt das Buch in Anspielung auf die Ausfälligkeiten, die Florians Tics mit sich brachten, und die oft rasende Geschwindigkeit, in der er diese von sich gab. „Die kamen wirklich immer wie aus der Pistole geschossen“, sagt Sabine Eisenmann. Auf dem von einer Illustratorin gestalteten Coverbild sind die zwei heiklen Wörter mit Papierknöllchen zensiert – auch das ein Verweis auf Florians Krankheit: Wenn er in der Schule Tics hatte, zerknüllte er häufig seine Aufschriebe.
Gut zehn Jahre an dem Buch gearbeitet
Gut zehn Jahre haben Sabine Eisenmann und Sandra Leitner-Wölfer an dem Buch gearbeitet. Anfangs noch ohne die Absicht, es zu veröffentlichen. „Wir haben immer gemeinsame Projekte“, sagt Sabine Eisenmann. „Zu Beginn wollten wir einfach nur meine Erinnerungen an die Zeit für unsere Familie festhalten.“ Erst die wiederholten Nachfragen von Freundinnen und Freunden nach einem Buch über ihre Geschichte und das Okay von Florian ermutigten die beiden Frauen zur Publikation. Den finalen Ausschlag, sich damit an ein breites Publikum zu wenden, gab der Journalist Leonhard Fromm, der Sandra Leitner-Wölfer auch in ihrem Schreibprozess begleitete.
Bis zur Veröffentlichung war es jedoch ein langer Weg. Das Buch entstand kapitelweise. Jeweils etwa zwei bis zweieinhalb Stunden trafen sich die Schwestern, um etwa über „Die Ärzte“, „Die Urlaube“ oder „Die Freunde“ zu sprechen. Sabine Eisenmann bereitete sich mit Tagebucheinträgen von früher auf die Gespräche vor, die oft bei einem Gläschen Sekt im Garten erfolgten.
Die Schwester formuliert die Gedanken schriftlich aus
Sandra Leitner-Wölfer hielt ihre Gedanken später zu Hause fest. „Drei, vier Stunden hat das pro Kapitel gedauert“, berichtet die 51-jährige Versicherungskauffrau aus dem Aspacher Teilort Rietenau. Es habe ihr Spaß gemacht, die Geschichte ihrer Schwester aufzuschreiben. „Ich selbst bin keine gute Schreiberin“, gibt Letztere ganz offen zu. Dass es von der Idee bis zum Druck des Buchs eine ganze Dekade gedauert hat ist hauptsächlich dem emotionalen Aspekt des Entstehungsgeschehens geschuldet. „Ich musste mich jedesmal in die Situation von damals zurückversetzen. Das war oft nicht so leicht“, erklärt Sabine Eisenmann.
Auf die ersten zaghaften Symptome von Florians Krankheit folgte ein regelrechter Ärztemarathon. Der erste Arzt schob die Verhaltensänderungen auf eine schlechte Erziehung, wollte Sabine Eisenmann einen Erziehungsberater zur Seite stellen – was bei der ohnehin schon gestressten Mutter selbstverständlich enorme Selbstzweifel hervorrief. „Ich war schuld. Natürlich. Wer auch sonst. Ich hatte einfach alles falsch gemacht und das war das Ergebnis. Selbst schuld. Die Spirale meiner Schuldgefühle beginnt sich zu drehen“, beschreibt sie ihre Gedanken nach diesen Vorwürfen im Buch.
Die Diagnose war ein Befreiungsschlag
Sie wollte ihren Sohn schon aus der Schule herausnehmen, um die anderen Kinder zu schützen, doch Florians Klassenlehrerin war dagegen. Florian sei krank, sagte sie, was kurz darauf endlich bestätigt wurde. Ein Jugendpsychiater stellte die Diagnose Tourette. Die Krankheit hatte einen Namen. „Für uns als Familie war das ein Befreiungsschlag“, betont Sabine Eisenmann. Florian bekam Tabletten verschrieben, die er mit etwa 16 Jahren jedoch wieder absetzte. Zu stark wirkten sie sich auf sein Naturell und auf sein Wohlbefinden aus. „Außerdem wollte er nie eine ‚Extrawurst‘ für seine Krankheit haben“, sagt Sabine Eisenmann.
Nach und nach richtete sich die Familie auf Florians Tourettesyndrom ein, fand Wege und Strategien, damit umzugehen. Um Stress zu vermeiden, der Tics förderte, ging Sabine Eisenmann mit ihrem Sohn oft in den Wald. Urlaub wurde auf dem Hausboot gemacht statt im Hotel: „Da konnte er schreien, ohne dass es jemanden störte.“ Statt einen Füller bekam Florian Holzstifte zum Schreiben, statt Gläser zum Trinken Plastikbecher. Eine spezielle Brille sorgte dafür, dass er sie nicht verbiegen konnte. „Das wäre sonst schnell teuer geworden“, weiß Sabine Eisenmann.

Kleinere und größere Katastrophen – so fühlten sich die Situationen für die Mutter jedenfalls oft an – blieben natürlich nicht aus. Bei einer Weihnachtsfeier des örtlichen Sportvereins spuckte Florian zum Beispiel quer übers Buffet. „Da denkst du: Wie viele Mauselöcher gibts hier, in denen ich mich verstecken kann?“, erinnert sich Sabine Eisenmann. Heute kann sie darüber lachen. Der Humor und ihr Glaube haben ihr stets dabei geholfen, mit der Krankheit umzugehen. Litt sie anfangs noch darunter, nicht ins „normale Lebensschema“ zu passen, wurde ihr mit der Zeit immer bewusster, dass der Zusammenhalt in der Familie und in ihrem Freundeskreis viel wichtiger ist als nicht aufzufallen. Betroffenen und ihren Angehörigen darf das ruhig Mut machen.
Foto: privat
Buch „F*cken F*tze Feuer Frei“ haben Sabine Eisenmann und Sandra Leitner-Wölfer im Eigenverlag veröffentlicht. Das Taschenbuch umfasst insgesamt zehn Kapitel. Es hat 156 Seiten, kostet 19,80 Euro und ist per E-Mail an kontakt@sabine-eisenmann.de
erhältlich. Weitere Infos unter www.sabine-eisenmann.de.
Autorin Sabine Eisenmann wurde am 15. September 1960 in Rietenau geboren, wo sie auch aufwuchs. Sie besuchte die Hauptschule in Großaspach. Seit 2002 ist die gelernte Friseurmeisterin in der Backnanger Musikschule Da Capo tätig, dort leitet sie den Früherziehungsbereich. In ihrer Freizeit singt sie gerne im Gospelchor oder verbringt Zeit mit ihrer Familie und mit Freunden. Mit ihrem Mann Volker wohnt Sabine Eisenmann in Großaspach. Das Paar hat die beiden Söhne Florian (35) und Max (31).
Tourette Das Gilles-de-la-Tourette-Syndrom – häufiger nur Tourettesyndrom genannt – ist eine neuropsychiatrische Erkrankung. Die Krankheit wurde erstmals 1827 wissenschaftlich erwähnt und erhielt den Namen des französischen Arztes, der 1885 eine ausführliche Beschreibung dieser Erkrankung gab: Georges Gilles de la Tourette. Das Tourettesyndrom ist eine chronische Tic-Störung. Der Begriff Tic stammt aus dem Französischen. Er steht für ein spezielles neurologisches Symptom. Es handelt sich dabei um plötzlich auftretende, rasche, sich wiederholende, zumeist nicht rhythmische Bewegungen (motorische Tics) oder Laute und Wörter (vokale Tics). Tics verändern sich im Verlauf hinsichtlich ihrer Lokalisation, Schwere, Häufigkeit und Komplexität. Weltweit leiden zirka 0,5 bis ein Prozent der Bevölkerung an einem Tourettesyndrom. Dieses geht oft mit weiteren psychischen Einschränkungen wie ADHS oder Zwangshandlungen einher (Quelle: Tourette-Gesellschaft Deutschland, Medizinische Hochschule Hannover).