Wenn Übergewicht schon in jungen Jahren zum Problem wird: Lage im Rems-Murr-Kreis
Die Zahlen von übergewichtigen Kindern sind erschreckend. Im Kreis befanden sich nach Angaben der Krankenkasse AOK offiziell insgesamt 674 Kinder aufgrund von Adipositas in ärztlicher Behandlung, darunter sieben Kleinkinder unter einem Jahr.

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Das Thema Ernährung ist ein vielschichtiges und betrifft vor allem nicht nur eine Person. Vielmehr ist die ganze Familie gefragt und gefordert. Dicke Kinder tragen keineswegs alleine die Verantwortung für ihr Übergewicht. Symbolfoto: stock.adobe.com/Peter
Von Simone Schneider-Seebeck
Rems-Murr. Übergewicht bei Kindern entwickelt sich immer mehr zum Problem. So sind im Rems-Murr-Kreis 674 Kinder stark übergewichtig. Allein sieben Kleinkinder unter einem Jahr gehören dazu. Die meisten Fälle finden sich in der Altersgruppe 10 bis 14 Jahre (319), gefolgt von fünf bis neun Jahre (208) und einem Jahr bis vier Jahre (140). Das Übergewicht im Kindesalter begünstigt verschiedene Krankheiten und kann zu psychosozialen Störungen führen.
Bereits seit Jahren zeichne sich eine deutlich spürbar zunehmende Entwicklung ab, hat Elke Walther, Ernährungswissenschaftlerin bei der AOK Ludwigsburg-Rems-Murr, festgestellt. Insbesondere seit und nach Corona seien mehr Anfragen zu kindlichem Übergewicht gestellt worden, so ihr Eindruck und der ihrer Teamkolleginnen. Allerdings habe man auch allgemein in der jüngeren Vergangenheit mit mehr Essstörungen zu tun. Doch woran liegt diese Entwicklung? Heutzutage scheint man sich doch immer mehr mit dem Thema Ernährung auseinanderzusetzen. Verschiedene Ernährungsarten stehen im Fokus, insbesondere auch der Umgang und die Bewerbung spezieller Kinderlebensmittel.
Dennoch scheint es weiterhin einiges an Unsicher- und auch Unwissenheit in Bezug auf Lebensmittel zu geben, wie Michael Neumann weiß. Seinen ersten Sitz für Ernährungsberatung hatte er in Backnang, mittlerweile praktiziert er in Stuttgart. „Oftmals leiden diese Kinder unter verschiedenen Herausforderungen, darunter Mobbing und Fettlebererkrankungen. In solchen Fällen versuche ich, den Eltern und Kindern zu helfen, und berate. Es ist traurig zu sehen, wie manche Eltern ihre Kinder aufgrund ihres mangelnden Wissens oder ihrer Unsicherheit stark kontrollieren, obwohl die Kinder erst sieben, acht oder neun Jahre alt sind. Es kommt vor, dass die Kinder beispielsweise bestimmte Lebensmittel wie Auberginen oder Zucchini nicht kennen.“ Fälle, in denen Kinder aufgrund ihres Gewichts gemobbt wurden, sind ihm nicht unbekannt: „Diese Erfahrungen zeigen mir, wie wichtig es ist, das Bewusstsein für dieses Problem zu schärfen und den Betroffenen zu helfen.“
Mittlerweile werde von vielen Eltern ein leichtes Übergewicht als weniger problematisch angesehen, hat Elke Walther beobachtet. Sie rät: Das Thema Gewicht solle man am besten weder verharmlosen noch dramatisieren und etwa mögliche Pfunde zu viel nicht sofort als negativ bewerten. Hilfreich ist dabei, wenn mehrere Personen dies im Blick behalten, etwa Kinderärzte oder Erziehungspersonen. Wichtig sei, dem Kind zu vermitteln, dass es lediglich ein Teil der Gesamtsituation sei und keineswegs die Verantwortung dafür alleine trage. „Es ist die Aufgabe der Familie“, betont Elke Walther. Die Vorbildfunktion ist hier gefragt – sich als Familie gemeinsam gesund und ausgewogen zu ernähren und entsprechend zu bewegen.
Und auch wenn man heutzutage mehr über gesunde und ausgewogene Ernährung weiß, es kommt vor allem auf die Umsetzung an. „Aufklärung ist wichtig, aber das tatsächliche Tun noch viel mehr“, so Walther. So gibt es bereits in Schulen und Kindergärten sehr gute Angebote, um Kindern und auch Familien das Thema nahezubringen und sie gezielt zu unterstützen. Die Evaluation entsprechender Programme zeigt auch, dass solch langfristige Angebote sich auf das Ernährungsverhalten von Kindern positiv auswirkt.
Tina Hofer arbeitet in einer Waiblinger Kinderzahnarztpraxis und zudem seit 2018 als Ernährungsberaterin und Gesundheitscoach in Remshalden. Sie hat in beiden Bereichen mit adipösen Kindern zu tun. „Zahnfleisch- und Kariesprobleme sieht man bei adipösen Kindern eher als bei normalgewichtigen“, hat sie festgestellt.
Bei der Erstuntersuchung geht es prinzipiell auch um das Thema Ernährung. Ein Problem dabei ist die ständige Nahrungszufuhr: „Es ist dabei vollkommen egal, ob dadurch Karies entsteht oder auch der Stoffwechsel immer zu arbeiten hat.“ Ebenfalls problematisch ist das späte oder sogar nächtliche Essen oder Trinken süßer Produkte oder auch Lebensmittel allgemein. Da sehe man sogar schon bei den Kleinsten, etwa bei der nächtlichen Flasche. Oft sei diese ab einem bestimmten Alter eher eine Gewohnheit als eine Notwendigkeit.
Zudem werde oft gar nicht wahrgenommen, was alles an zuckerhaltigen Nahrungsmitteln oder Getränken verzehrt wird. „Viele Eltern betonen, dass ihr Kind nichts Süßes isst“, weiß Hofer. Doch hinterfrage man die Essgewohnheiten, etwa mit einem Ernährungsbogen, finde man oft versteckten Zucker. „Kinder leben den Lifestyle ihrer Eltern nach“, sagt die Ernährungsberaterin. Auch sie hat festgestellt, dass die Lockdownzeiten sich in Bezug auf Bewegung auf Kinder negativ ausgewirkt haben.